PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Gerer, Reinhard



poldi
21.01.2003, 23:55
Gerer, Reinhard

Wien ist dieser Jännertage jännerunerträglich. Es friert zwar nicht, doch es ist kalt, der Nieselregen macht alles rutschig und zieht in die Knochen. Grau ist es sowieso. Im Büro sind den ganzen Tag die Neonleuchten an. Halb fünf, ein Blick mit meiner Bürokollegin C. ins Kinoprogramm. Burgkino, 17:45, The Two Towers. Da geht sich vorher noch etwas zur Happy Hour aus.

Cous-cous chez Pierre am Naschmarkt, das kennt C. noch nicht. Chez Pierre heißt vielleicht auch anders, ich nenne es so, ein verglaster Kiosk, fünf, sechs Meter lang. Breitseits passen eine Bar, eine Kochnische, ein schmaler Mittelgang und Tische hinein, längsseits vier Tische.

Wie freundlich gelb ist das Licht im dunklen Nachmittag, wie warm die Heizung unter den gepolsterten Sitzbänken, wie bunt glitzert die Faschingsdekoration, wie einladend sind die grünen Kunststoffdecken auf den Tischen. Wir bekommen den ersten. größten Tisch gleich bei der Tür. Außer uns keine Gäste, der marokkanische Patron liest Zeitung, eine freundliche junge Frau setzt das Cous-Cous zu. Der Rotwein leuchtet im Glas, und C. macht sich über ihr kleines Bier her. Pierre sagt: der Winter dauert so lang, eh, für mich kann der Winter nicht kurz genug sein.

Wie schade, die Tür geht auf. Und bleibt offen. Eine Frau und ein Mann. Eine Hüfte in was Dunklem so nah an meiner Schulter. Ich plaudere mit C. weiter. Die Dame und der Herr überlegen, ob sie dableiben, beratschlagen mit dem Patron. Sie bleiben da. Sie setzen sich an den vierten, letzten Tisch.

Ignorieren geht nicht mehr, sie sitzen direkt in meinem Blickfeld. C. plaudert mit mir. Und da ist dann irgendwann noch einer. Genau im Profil seh ich ihn. Er sitzt der Dame und dem Herrn gegenüber und redet. Die anderen hören ihm gebannt zu. Ist er's oder ist er's nicht, ich möchte auch zuhören. C. plaudert so reizend... bleiben Wortfetzen vom hinteren Tisch.

... komm grad ausm ORF... seit die Wahlen waren, geht überhaupt nix mehr weiter (unfrohes Lachen, die zwei Anderen blicken ernst).

Das Cous-Cous wird bald kommen.

(dringlich) Was kann i verlangen... zwölfe... die zweite Folge... die zwei Anderen blicken ernst, eine graue Aktenablage mit zwölf Unterteilungen wird geöffnet.

C. plaudert weiter, ich habe "Kochen" gehört und bin sicher. Ich sage zu C.: Pappen, sie fragt: wer, ich schreibe auf meinen Notizblock: Reinhard Gerer. Gerer blickt sofort auf den Notizblock. Ich räume ihn weg. C. aber, die Wunderbare, bittet um meinen Stift, notiert ihrerseits, was ich gerade gesagt habe, in ein Büchlein aus ihrer Tasche, und fragt noch den genauen Wortlaut nach.

Das Cous-Cous kommt, ist wunderbar und wird von uns laut gelobt. Dreihaubenkoch Gerer aus dem Korso spricht unentspannt mit der Dame und dem Herrn weiter... naa, des soll dann der Steuerberater machen. Der Aktenordner wird zugeklappt. So stimmt also nur zur Hälfte, was die Gazetten behaupten: dass er sich nachmittags am Naschmarkt mit seinen Spezeln herumtreibe und immer im Käsegeschäft zuviel Prosecco trinke. Das Käsegeschäft ist ein paar Standeln weiter. Dieses Herumtreiben sei den Haubenverleihern von Gault-Millau nicht entgangen, wussten die Gazetten zu berichten - eine Haube weg, weil er in seinem "Korso" nur mehr für bestimmte Leute aufmerksam koche.

Gerer trinkt ein großes Bier und spricht unentwegt weiter, die beiden anderen hören zu. Seine halblangen Haare reichen über den Kragen. Er trägt ein dunkelblaues Sakko und einen Schal, der ausschaut, als hätte er viel Geld gekostet: ein unterfüttertes, gemustertes Etwas, königsblau mit dottergelben, smaragdgrünen, krapproten Einsprengseln in einem komplizierten Ornament. Gerers Haare sind gewaschen. Das kann man von der Zuhörerin und dem Zuhörer mit dem Aktenordner nicht sagen. Der hat dunkelblonde Haare mit Seitenscheitel, die richtig fett ausschauen. Koteletten, Sideburns, ein bisschen dunkler, bis tief in die Wange. Eine teigige Wange, teigig, ja, teigig, für diese Wange wurde dieses Wort gefunden, ein unruhiger Blick aus blauen Augen. Ein Schal von gleicher Machart wie der Gerers, vielleicht doch Seide, scharlachrotes Kleines wiederholt sich in Dottergelb und schaut neben dem blau-weiß-gestreiften Hemd unglaublich schmuddelig aus.

Der Patron serviert der C. und mir Zugaben des Hauses: Schafkäse mit Oregano, Öl und Oliven, dann eine wunderbar lockere überzuckerte und überzimtete Nussspeise. Der Gerer-Tisch bekommt auch Schafkäse. Gerer steckt eine Olive in den Mund. C. und ich zahlen und gehen. Wir sind für die software-verstärkten Schlachtszenen erwärmt und gestärkt.

Das erste und letzte Mal davor hatte ich, vor etlichen Jahren, Gerer im Neu Wien gesehen. Da war es Sommer und weit nach Mitternacht gewesen. Er kam offenbar nach getaner Arbeit von seinen haubengekrönten Kochtöpfen, trank Prosecco und schmuste ausgreifend mit einer blonden langhaarigen jungen Frau. Sie trug Riemchensandalen und Helles, Glänzendes, das von der Schulter rutschte. Sagen wir, sie war sechzehn, oder vielleicht auch zwanzig, und sah bloß aus wie zwölf.