PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Vogel, Dr Hans-Jochen (haut mir auf die Schulter)



Gemini
22.10.2002, 19:53
Der Tag hätte passender nicht geraten können, herbstlich, leicht dunstig, kühl aber windstill. Ein Novembertag, bestens geeignet also, in sich zu gehen, etwas besinnlich zu werden und auch der Toten zu gedenken und ihre Errungenschaften zu würdigen. An einem solchen Tag also trat die Prominenz dieser bedeutenden Metropole im westlichen Ostwestfalen an der Grenze zum südöstlichen Münsterland an einem unscheinbaren Ort zusammen und tat genau dies. Sie gedachte eingehend des ehemaligen Bürgermeisters von Berlin, Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt und zwar in Form der Einweihung und Enthüllung einer Gedenkstele sowie der Benennung dieses kleinen, versteckten, vielen, sogar langjährigen Einwohnern nicht bekannten kleinen Parks in „Willy-Brandt-Platz“ Man muss wissen, dass im katholisch geprägten westlichen Ostwestfalen sehr überwiegend streng konservativ gewählt wird, Willy Brandt also zu Lebzeiten hier nicht seinen allergrößten Anhängerkreis fand.

Ich gehörte damals zum Lower-Management der Gemeinde und hatte die erheblich verantwortungsvolle Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der unscheinbare Park picobello sauber, die Bänke geputzt, die Mülleimer auf Hochglanz gewienert, der Rasen geschnitten, das Wildkraut entfernt und der Park frei von Müll, sowie jeglichem weiteren Unrat sein würde. Daneben sollten zwei Straßennamensschilder mit der Aufschrift „Willy-Brandt-Platz“ angebracht sein, um dem kleinen Park künftig den Charakter einer öffentlichen Verkehrsfläche zu verleihen.
Die Gedenk- und Enthüllungszeremonie war, so war zumindest mein Kenntnisstand, an diesem Tag für 15.00 Uhr terminiert, auch ein prominenter Redner war eingeladen. Für den Verantwortlichen für Sauberkeit und Ordnung also Grund genug, vorab noch nach dem Rechten zu sehen, nicht dass am Ende ein unglücklich plaziertes Hunde-A-A meiner hoffnungsvollen Karriere ein abruptes Ende bereitete. Also begab ich mich gegen kurz vor 11.00 Uhr zu Fuß dorthin, bog um die Ecke, stieß auf jede Menge Lokalprominenz, mit langen Mänteln und teils mit roten Schals der Kälte gewappnet, ward gesehen, wurde begrüßt, kurzum: ein Umkehren kam nicht mehr in Frage. Wie hätte ich auch ahnen können, dass der Prominente in seinem Terminkalender Kollisionen feststellte, die die Vorverlegung der Gedenkzeremonie auf 11.00 Uhr erforderlich machten. Sowas kann man, muss man mir aber nicht sagen.
Als mit Abstand Rangniedrigster der Anwesenden, stellte ich mich somit standesgemäß ganz außen an der Rand der Versammlung, die nun bereits exakt in Richtung der verhüllten Gedenkstele ausgerichtet war, und beschloss, da ich ja nunmal hier war, der Zeremonie unauffällig beizuwohnen.
Am gegenüberliegendem Rand der Versammlung fuhr kurz darauf eine große schwarze Limousine vor, und Dr. Hans-Jochen Vogel entstieg ihr mit federndem Schritt. Er begrüßte die ersten vier-fünf Herren freundlich per Handschlag (Verdiente Sozialdemokraten hatten sich ihm mit Hilfe der roten Schals unschwer zu erkennen gegeben), dann schritt er an allen übri-gen Leuten vorbei und stellte sich direkt neben mich, verschränkte die Hände hinter dem Rücken, richtete seine Körperhaltung ruckartig gerade zurecht, verharrte und blickte ge-spannt in Richtung des verhüllten Steines. Nun bildete Dr. Vogel den äußeren Rand der Versammlung. In der folgenden Stille spürte ich deutlich die Blicke und Gedanken der Anwesenden, die spürbar irritiert nun Herrn Dr. Vogel nur zusammen mit mir wahrnehmen konnten. Ohne Zweifel hatten alle anderen wesentlich mehr Verdienste im Bezug auf die Kommunalpolitik im allgemeinen und der Partei des Geehrten im besonderen vorzuweisen und jedem anderen hätte – soviel stand fest- eher der Platz neben ihm gebührt. Tja, Pech eben.

Der Bürgermeister glitt zum Mikrophon und die vielen Seiten, die er mit nach vorne trug, ließen schon erahnen, dass Herr Dr. Vogel noch eine ganze Weile ausschließlich neben mir stehen würde. Nachdem der Ehrengast ausgiebig freundlich begrüßt wurde, der Zusammenhang zwischen dem Ehrengast und dem Geehrten in einer politischen Rückschau hergestellt war und daraus hergeleitet, die Verdienste beider Persönlichkeiten zur Sprache gekommen waren, sowie abschließend das Bedauern zum Ausdruck gebracht worden war, dass die Sozis hier im katholisch geprägten –Sie wissen schon – sagen wir mal etwas unterrepräsentiert sind, schloss der Bürgermeister und es entstand eine kleine Pause, da nun die Vorbereitungen für den Enthüllungsakt anliefen.

Diese kleine Pause nutzte ein älterer Herr, der plötzlich aus der Mitte der Versammlung direkt auf uns zukam. „Hallo Jochen!“ begann er, und ich zuckte innerlich zusammen. Er wolle einmal die Gelegenheit nutzen, sich hier und heute einmal persönlich vorzustellen, denn er sei hier in dieser Stadt der Seniorinnen- und Seniorenbeauftragte und in diesem Ehrenamt schon seit vielen Jahren den Belangen der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern verpflichtet. Gerade die Seniorinnen und Senioren dürften nicht an den Rand gedrängt(!) werden, hier sei es ihm wichtiges Anliegen, für eine entsprechende Infrastruktur zu sorgen, Seniorinnen- und Seniorenbusse, auch nach 19.00 Uhr, Internet im Altersheim, Essen auf Rädern, auch in Randbereichen, menschenwürdige Hüftoperationen, Windelsack bei Inkontinenz, Mietenkel usw, ich weiß es nicht mehr alles so genau.

Plötzlich unterbrach Dr. Vogel: „Ach wissen Sie, Herr Ähh?,“ drehte sich plötzlich zu mir um, schlug mir auf die Schulter, ließ seine Hand dort liegen und fuhr fort: „Die Jugend, die sollten wir aber auch nicht vergessen“

bettyford
22.10.2002, 20:21
Ziemlich dufte Paparazzierung aus der Twilight-Zone zwischen eigentlich-beruflich-aber-uneigentlich-nicht. Gefällt mir gut.

Angelika Maisch
22.10.2002, 22:51
Internet im Altersheim. Wer sagts denn, das macht doch Hoffnung.
Den Mann wähl isch!
Picobello Geschichte, Gemini.

Bartholmy
22.10.2002, 23:11
Es geht doch um Münster? Ich frage nur, weil ich beim neuen Tatort aus Münster dieser Tage leicht überrascht zuckte (der Tatort war halbwegs ok), als im Rahmen einer Verfolgungsjagd (Auto) durch die verkehrsarme Innenstadt (keine Überraschung) selbst kaum Radfahrern ausgewichen werden musste (das schon eine milde Überraschung), dann aber plötzlich der Kommissar ins Automikro schrie: 'Richtung Willy-Brandt-Platz' osä. und ich dachte: 'Das kam jetzt aber doch überraschend, ein Willy-Brandt-Platz in Münster, eigentlich gar keine üble Dramaturgie.'

Aber das nur am Rande der schönen Geschichte.

Publikum
23.10.2002, 00:53
Fein, höflich und legal.

Lilith rennt
23.10.2002, 08:49
Herr Bartholmy! Geographie: setzen, 6! Münster ist nicht Ostwestfalen, es könnte sich hier z.B. um Bielefeld gehandelt haben. M. E. gibt es MS auch keinen Willy-Brandt-Platz, wenn, dann wäre er vor so geringer Bedeutung, dass er seinem Namensgeber keine Ehre erwiese.

Man darf doch mal seine Heimat verteidigen, oder?

Die Geschichte hat gut gefallen, "Herr Ähh" ist immer ein eleganter Konter auf joviale Respektlosigkeit.

Klingeltonk
23.10.2002, 09:17
Eine feine Geschichte, die ich aber eher nach Rheda (katholisch!) als nach Bielefeld (evangelisch!) stecken würde.

Was mich aber auch interessiert: gibt es tatsächlich "Mietenkel"? Ich stelle mir das jetzt so vor, daß die Senioren nach 19.00 Uhr mit Windelsack vor dem Computer sitzen und über www.mietenkel.de sich den kleinen Schatz für das Wochenende buchen.

Buratino
23.10.2002, 09:20
Schöne Herbstgeschichte.

Eigentlich hatte ich erwartet, das unter dem Tuch, auf dem Gedenkstein, ein Hundehaufen auf seine Enthüllung wartet...aber glücklicherweise ist die Welt nicht immer flach.