Tobi Wahn
14.10.2002, 16:38
Hajenski und ich brauchten eine neue Mieterin. Dass es eine Frau sein müsse, war klar: Noch ein Mitbewohner von der Sorte, die sich nach dem Aufstehen um drei Uhr nachmittags gegenseitig versicherten, morgen dann aber ganz bestimmt zu spülen, hätte zu nichts Gutem geführt. Wir erhofften uns, durch die Anwesenheit einer Fremden einen Arschtritt, der direkt an unsere gute Erziehung appellieren würde; wir wollten uns zwingen, eine bessere WG zu sein.
Die Zeiten, in denen man in dieser Stadt ein Kellerklo ohne Heizung für 350 Mark kalt vermieten konnte, waren vorbei, entsprechend schwierig gestaltete sich die Untermieter-Auswahl.
Wir hatten im Endeffekt sieben Männer und zwei Frauen zur Auswahl, von der unsere eigentliche Favoritin nach kurzer Besichtigung absagte. Ein Tiefschlag. Und wieso riefen überhaupt so viele Männer an, wo in der Anzeige doch ausdrücklich nach einer Mitbewohnerin gesucht wurde?
Übrig blieb eine angewandte Theaterwissenschaftlerin.
"Vergiss es, ich ziehe nicht mit einer Theaterwissenschaftlerin zusammen" ereiferte sich Hajenski, als sie nach einem unverbindlichen Kennenlern-Kaffee wieder gegangen war. "Es gibt keine Menschen, die hysterischer und anstrengender sind, glaub's mir! Und außerdem hat die das Nesthäkchen gespielt. Wäwäwäwäwä ..." äffte er sie mit kindlichem Tonfall nach. Ich hatte noch nie von 'Nesthäkchen' gehört und fand sie wirklich ausgesprochen sympatisch.
"Hey, sie sieht gut aus und ist doch wirklich recht nett" konterte ich. "Und wen willst Du sonst nehmen? Den Wochenendheimfahrer mit dem Bart? Oder den Kiffer? Vergiss es, dass diese Jungs je freiwillig putzen!"
"Das schon, aber ..." Ihm gingen spürbar die Argumente aus. "Du findest sie ja bloß nett, weil sie Dich die ganze Zeit angelächelt hat! Und gut aussehend? Ich bitte Dich, die ist blond und hat ein Kindergesicht mit Stupsnase. Sowas nennt man drollig, aber nicht gut aussehend. Dass man Dich derart leicht beeindrucken kann, schockiert mich ziemlich! Wart's ab, in 'nem halben Jahr müssen wir alle mit Schleifchen im Haar herum laufen und sie mit 'Gnädiges Fräulein' ansprechen." Langsam kam er dann aber doch wieder runter. "Lass uns nen Deal machen: Wenn sie zu stressen anfängt, schmeißen wir sie wieder raus, ohne Diskussionen, o.k.?"
Er hatte das 'stressen' ja nicht näher definiert und so war ich sicher, dass wir schon miteinander auskommen würden.
Ich rief sie also an und sagte zu. Sie freute sich, ich freute mich, Hajenski grummelte und machte 'Wäwäwäwäwä'.
Drei Tage vor Anjas offiziellem Einzugstermin trafen Hajenski und ich auf irgendeiner Fete Kati. Mit ihr hatten wir beide schon mal geknutscht, außerdem war sie Schneiderin, dunkelhäutig, lockenbemähnt, unkompliziert und nie übellaunig. Und sie suchte ein Zimmer. "Du kannst bei uns einziehen, Kati!", lallte Hajenski schwankend, "Ich mach das klar mit dem Gnädigen Fräulein!" wiegelte er mich ab, der ich mit offenem Mund und Böses ahnend zum eingreifen ansetzte.
Noch in der gleichen Nacht sprach er auf Anjas Anrufbeantworter, er gab sich furchtbare Mühe, höflich zu sein und deutlich zu sprechen, ich bin sicher, dass man trotzdem nur höchstens die Hälfte verstehen konnte.
Am nächsten Morgen um 12 klingelte es Sturm – verschlafen und verkatert torkelten wir an die Tür und beobachteten Anja, wie sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, zu uns in den dritten Stock preschte. "Jungs? Was ist denn los mit Euch?" rührte sie uns in einem mütterlichen Ton, der jeden Felsen erweicht hätte, und betrachtete uns dabei traurig aus großen Augen. "Wollt ihr nicht, dass ich hier einziehe? Ich dachte, wir würden uns gut verstehen und hab mich schon so gefreut ..."
Hajenski und ich schmolzen wie ein Fürst Pückler Eis im Juli und stammelten Entschuldigungen und faselten von Missverständnissen und Alkohol und dass alles gut würde jetzt. Wir fühlten uns schlecht. Gemein und hinterlistig und erwischt.
Also zog Anja bei uns ein. Die fremden Jungs, die Anja beim Einziehen helfen durften, waren nett und ruhig, arbeiteten effizient und ohne murren. Hajenski half nicht, weil er schlafen musste, ich half nicht, weil ich mich vor den fremden Kerlen nicht durch übermäßiges Schwitzen blamieren wollte – außerdem war es ja auch nicht viel, was sie hatte.
Unsere neue Mitbewohnerin brachte eine Arbeitsplatte und einen kaputten Kühlschrank mit in die WG. Den konnten wir dann neben den funktionierenden stellen, die Platte drüber legen und hatten plötzlich eine Fläche, auf der man zum Beispiel schmutziges Geschirr abstellen konnte, während man auf dem Küchentisch neues schmutziges Geschirr produzierte – ich war begeistert.
Sie hatte zwar ein eigenes Klo, aber das Bad teilten wir uns. Umso erstaunter war ich, als sie uns eines Tages in Augenhöhe der Bubentoilette ein Gedicht aufhängte. Der Autor hat nur ziemlich kurz aber wild gelebt und das Gedicht ist aus den frühen 50ern, erklärte sie mir freundlich, als ich sie danach fragte. Mehr wollte sie dazu nicht sagen.
Im Gegensatz zu uns schien sie eine ziemlich ordentliche Studentin zu sein und erzählte bei irgendeinem Frühstück nebenbei von einem Referat, das sie und ein paar Kommilitonen gehalten hätten, während dessen sich dann alle nackt ausgezogen hätten. Ich unterdrückte den Drang, meinen Mund voll Kaffee über den Tisch zu prusten und Hajenski hustete, gähnte und zwinkerte gleichzeitig nervös mit den Augen - sein typisches Verlegenheitsverhalten. Das war wie die Jahrhundertflut auf Hajenskis Theaterwissenschafts-Vorurteilsmühlen.
Anja fuhr dann bald lange und häufig nach Frankreich. Wenn sie dann mal wieder zu Hause bei uns war, winkte sie immer nur errötend ab, wenn es darum ging, was sie dort denn überhaupt machen würde. "Ach, es ist wegen eines Mannes. Und er ist sehr, sehr jung ..." Ihr war das peinlich. Ich war immer ziemlich hingerissen von ihr und mochte ihre klare, deutliche Aussprache, ohne jeden Akzent, durch die sie immer ein bisschen hochnäsig rüberkam. Man konnte sich leicht wie ein dummer Bauer fühlen, wenn man sich mit ihr unterhielt, aber mich spornt sowas ja immer an.
Wenn sie dann aus der Küche verschwunden war, bließ sich Hajenski, der bis dahin nur stumm und verbissen seine Tofu-Würfel angebraten hatte, mächtig auf und machte "Wäwäwäwä" und tat so, als ob er sich die Kleider vom Leib reißen würde. Ich glaube, ihm war das im Nachinein peinlich, dass er sich so von ihr um den Finger hat wickeln lassen, damals, vor ein paar Wochen.
Nicht viel später zog Anja wieder aus. Sie wolle weg aus dieser engen, hässlichen Stadt, wahrscheinlich erst mal nach Frankreich und dann mal sehen. Viel mehr als "Tschüss" hatten wir uns zum Abschied nicht zu sagen, was ich sehr schade fand.
Soweit ich weiß, ist sie jetzt in München und macht bildende Kunst. In irgendwelchen TV-Foren wird sich immernoch gegenseitig gestanden, damals in Anja Bayer verliebt gewesen zu sein. Und eine nicht kleine Fangemeinde fordert beharrlich die Wiederholung der kompletten Nesthäkchen-Serien.
Ich war kürzlich zu Besuch bei Hajenski in der alten WG. Da wohnt er jetzt allein mit seiner Freundin und was soll ich sagen: Die Arbeitsplatte liegt immer noch über dem kaputten Kühlschrank und auf dem Klo hängt das Gedicht, das ich bis heute nicht wirklich verstanden habe.
Die Zeiten, in denen man in dieser Stadt ein Kellerklo ohne Heizung für 350 Mark kalt vermieten konnte, waren vorbei, entsprechend schwierig gestaltete sich die Untermieter-Auswahl.
Wir hatten im Endeffekt sieben Männer und zwei Frauen zur Auswahl, von der unsere eigentliche Favoritin nach kurzer Besichtigung absagte. Ein Tiefschlag. Und wieso riefen überhaupt so viele Männer an, wo in der Anzeige doch ausdrücklich nach einer Mitbewohnerin gesucht wurde?
Übrig blieb eine angewandte Theaterwissenschaftlerin.
"Vergiss es, ich ziehe nicht mit einer Theaterwissenschaftlerin zusammen" ereiferte sich Hajenski, als sie nach einem unverbindlichen Kennenlern-Kaffee wieder gegangen war. "Es gibt keine Menschen, die hysterischer und anstrengender sind, glaub's mir! Und außerdem hat die das Nesthäkchen gespielt. Wäwäwäwäwä ..." äffte er sie mit kindlichem Tonfall nach. Ich hatte noch nie von 'Nesthäkchen' gehört und fand sie wirklich ausgesprochen sympatisch.
"Hey, sie sieht gut aus und ist doch wirklich recht nett" konterte ich. "Und wen willst Du sonst nehmen? Den Wochenendheimfahrer mit dem Bart? Oder den Kiffer? Vergiss es, dass diese Jungs je freiwillig putzen!"
"Das schon, aber ..." Ihm gingen spürbar die Argumente aus. "Du findest sie ja bloß nett, weil sie Dich die ganze Zeit angelächelt hat! Und gut aussehend? Ich bitte Dich, die ist blond und hat ein Kindergesicht mit Stupsnase. Sowas nennt man drollig, aber nicht gut aussehend. Dass man Dich derart leicht beeindrucken kann, schockiert mich ziemlich! Wart's ab, in 'nem halben Jahr müssen wir alle mit Schleifchen im Haar herum laufen und sie mit 'Gnädiges Fräulein' ansprechen." Langsam kam er dann aber doch wieder runter. "Lass uns nen Deal machen: Wenn sie zu stressen anfängt, schmeißen wir sie wieder raus, ohne Diskussionen, o.k.?"
Er hatte das 'stressen' ja nicht näher definiert und so war ich sicher, dass wir schon miteinander auskommen würden.
Ich rief sie also an und sagte zu. Sie freute sich, ich freute mich, Hajenski grummelte und machte 'Wäwäwäwäwä'.
Drei Tage vor Anjas offiziellem Einzugstermin trafen Hajenski und ich auf irgendeiner Fete Kati. Mit ihr hatten wir beide schon mal geknutscht, außerdem war sie Schneiderin, dunkelhäutig, lockenbemähnt, unkompliziert und nie übellaunig. Und sie suchte ein Zimmer. "Du kannst bei uns einziehen, Kati!", lallte Hajenski schwankend, "Ich mach das klar mit dem Gnädigen Fräulein!" wiegelte er mich ab, der ich mit offenem Mund und Böses ahnend zum eingreifen ansetzte.
Noch in der gleichen Nacht sprach er auf Anjas Anrufbeantworter, er gab sich furchtbare Mühe, höflich zu sein und deutlich zu sprechen, ich bin sicher, dass man trotzdem nur höchstens die Hälfte verstehen konnte.
Am nächsten Morgen um 12 klingelte es Sturm – verschlafen und verkatert torkelten wir an die Tür und beobachteten Anja, wie sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, zu uns in den dritten Stock preschte. "Jungs? Was ist denn los mit Euch?" rührte sie uns in einem mütterlichen Ton, der jeden Felsen erweicht hätte, und betrachtete uns dabei traurig aus großen Augen. "Wollt ihr nicht, dass ich hier einziehe? Ich dachte, wir würden uns gut verstehen und hab mich schon so gefreut ..."
Hajenski und ich schmolzen wie ein Fürst Pückler Eis im Juli und stammelten Entschuldigungen und faselten von Missverständnissen und Alkohol und dass alles gut würde jetzt. Wir fühlten uns schlecht. Gemein und hinterlistig und erwischt.
Also zog Anja bei uns ein. Die fremden Jungs, die Anja beim Einziehen helfen durften, waren nett und ruhig, arbeiteten effizient und ohne murren. Hajenski half nicht, weil er schlafen musste, ich half nicht, weil ich mich vor den fremden Kerlen nicht durch übermäßiges Schwitzen blamieren wollte – außerdem war es ja auch nicht viel, was sie hatte.
Unsere neue Mitbewohnerin brachte eine Arbeitsplatte und einen kaputten Kühlschrank mit in die WG. Den konnten wir dann neben den funktionierenden stellen, die Platte drüber legen und hatten plötzlich eine Fläche, auf der man zum Beispiel schmutziges Geschirr abstellen konnte, während man auf dem Küchentisch neues schmutziges Geschirr produzierte – ich war begeistert.
Sie hatte zwar ein eigenes Klo, aber das Bad teilten wir uns. Umso erstaunter war ich, als sie uns eines Tages in Augenhöhe der Bubentoilette ein Gedicht aufhängte. Der Autor hat nur ziemlich kurz aber wild gelebt und das Gedicht ist aus den frühen 50ern, erklärte sie mir freundlich, als ich sie danach fragte. Mehr wollte sie dazu nicht sagen.
Im Gegensatz zu uns schien sie eine ziemlich ordentliche Studentin zu sein und erzählte bei irgendeinem Frühstück nebenbei von einem Referat, das sie und ein paar Kommilitonen gehalten hätten, während dessen sich dann alle nackt ausgezogen hätten. Ich unterdrückte den Drang, meinen Mund voll Kaffee über den Tisch zu prusten und Hajenski hustete, gähnte und zwinkerte gleichzeitig nervös mit den Augen - sein typisches Verlegenheitsverhalten. Das war wie die Jahrhundertflut auf Hajenskis Theaterwissenschafts-Vorurteilsmühlen.
Anja fuhr dann bald lange und häufig nach Frankreich. Wenn sie dann mal wieder zu Hause bei uns war, winkte sie immer nur errötend ab, wenn es darum ging, was sie dort denn überhaupt machen würde. "Ach, es ist wegen eines Mannes. Und er ist sehr, sehr jung ..." Ihr war das peinlich. Ich war immer ziemlich hingerissen von ihr und mochte ihre klare, deutliche Aussprache, ohne jeden Akzent, durch die sie immer ein bisschen hochnäsig rüberkam. Man konnte sich leicht wie ein dummer Bauer fühlen, wenn man sich mit ihr unterhielt, aber mich spornt sowas ja immer an.
Wenn sie dann aus der Küche verschwunden war, bließ sich Hajenski, der bis dahin nur stumm und verbissen seine Tofu-Würfel angebraten hatte, mächtig auf und machte "Wäwäwäwä" und tat so, als ob er sich die Kleider vom Leib reißen würde. Ich glaube, ihm war das im Nachinein peinlich, dass er sich so von ihr um den Finger hat wickeln lassen, damals, vor ein paar Wochen.
Nicht viel später zog Anja wieder aus. Sie wolle weg aus dieser engen, hässlichen Stadt, wahrscheinlich erst mal nach Frankreich und dann mal sehen. Viel mehr als "Tschüss" hatten wir uns zum Abschied nicht zu sagen, was ich sehr schade fand.
Soweit ich weiß, ist sie jetzt in München und macht bildende Kunst. In irgendwelchen TV-Foren wird sich immernoch gegenseitig gestanden, damals in Anja Bayer verliebt gewesen zu sein. Und eine nicht kleine Fangemeinde fordert beharrlich die Wiederholung der kompletten Nesthäkchen-Serien.
Ich war kürzlich zu Besuch bei Hajenski in der alten WG. Da wohnt er jetzt allein mit seiner Freundin und was soll ich sagen: Die Arbeitsplatte liegt immer noch über dem kaputten Kühlschrank und auf dem Klo hängt das Gedicht, das ich bis heute nicht wirklich verstanden habe.