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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Putin, Wladimir (Putin zur Geisterstunde)



Goodwill
11.07.2002, 16:44
Puschkin hatte angeblich Geburtstag. Aber nur zweieinhalb Sträuße Blumen lagen ihm an seinem Denkmal zu Füßen, vor seiner Sterbe-Wohnung welkten nur wenige Nelken. Noch vor zwei Jahren war das anders gewesen. Ganze Berge waren damals zu seinen Ehren verrottet. Muttchen und Bohemiens in spe hatten damals in Sankt Petersburg mit tranigen Bewegungen und trüben Blicken ihrer Verzweiflung darüber Ausdruck verliehen, dass der Dichter nun schon seit über 160 Jahren nichts Neues mehr verfasst hat.

Es war also nicht Puschkins Geburtstag. Im Reiseführer stand Unsinn. Aber die Fehlinformation verlieh dem Juni-Abend doch etwas besonderes.

Es war lau. Es wurde immer später. Die Stadt sammelte immer noch Kraft für die Nächte, die bald kommen würden. Nächte ohne Dunkelheit, ohne Schlaf, ohne vernünftige Gedanken.

Unser Weg führte uns über den riesigen Platz vor dem Winterpalais. Man fühlt sich sehr klein dort und so, als ob man sich nur in Zeitlupe bewegen könnte. Je schneller man vorankommen willl, desto langsamer wird man. Vom kleinen Park am anderen Ende wehte der Geruch nach Holzkohle und Schaschlik herüber. Vor einem Säulengebäude versuchten ein paar Militärs mit verrutschten Mützen und glasigem Blick in die Fonds ihrer Wolgas zu steigen. Die aufgemalten Linien, die tagsüber die Besucherschlangen der Eremitage bändigen sollen, wirkten wie überflüssige Bodenzeichnungen eines Korinthenkackerclans. Die tagsüber weißen Statuen auf den Dächern standen verloren und betrübt vor dem Dämmerhimmel herum. Es war kurz vor Mitternacht und irgendwas stimmte nicht.

Um die Ecke ging es Richtung Schlossbrücke. Ein paar Vergessene tranken noch neben den Dixi-Klos. Ein Grillstand-Betreiber mit Papiermütze sortierte schwertähnliche Spieße. Auf der Kreuzung im Hintergrund standen Milizionäre in mausgrau. Auch auf der Brücke standen zwei, drei, vier. Dafür fuhr kein einziges Auto vorbei. Die Straße, der Platz, die Uferpromendade entlang der Newa _ alles war gespenstisch ruhig. Nur ein Bierstand zapfte. Es roch nun nach Algen und Ostsee. Wir schlenderten näher, blieben vorsichtshalber an der Ampel stehen, wurden aber vom dort postierten Milizionär mit seinem Zierschlagstock hinübergewunken. Bei Rot!

Der Milizionär murmelte etwas von »President« und zeigte Richtung Isaaks-Kathedrale.

Als kurz darauf ein blau-rot-blitzender Wurm auf die Uferstraße bog, begannen wir sofort, die Autos zu zählen. Bei 18 hörte ich vorzeitig auf, denn der wirre Tross aus Polizeiwagen, schwarzen Limousinen und weißen Kleinbussen schob sich bereits auf die Brücke. Keine acht Meter entfernt, mittendrin und prunkvoll einsam: eine Karosse mit weißblaurotem Stander. Wir winkten verschüchtert. Die Kleinbusse waren praktisch leer, die Polizeiwagen ebenso. Hinter den dunklen Scheiben der Karosse sei ein weißes Hemd zu erkennen gewesen, sagte mein Begleiter später.

Es war genau Mitternacht. Ab morgen würde der Mann im Hemd diverse Asien- und Kaukasus-Präsidenten treffen; überübermorgen meinen Bundeskanzler.

Die kurzgeschorenen Jung-Gangster, die dreißig Meter weiter mit ihrem Motorboot angelegt hatten, interessierten sich mehr für die Mädchen, die am Ufer herumdrucksten. Der Bierzapfer polierte seine Gläser. Der Gitarrero daneben kümmerte sich um seinen Soundcheck. Niemand hatte Puschkins Geburtstag gefeiert. Nur wir hatten gewunken.

Max DeRire
11.07.2002, 17:00
Welkende Nelken, Dämmerhimmel, Geruch von Algen und Ostsee.
Mausgraue Bilder colorieren diese große Erzählung. Sad and beautiful world.

christoph
11.07.2002, 18:02
Goodwill, you´re the man. U tebja russkaja duscha.

Lenin
11.07.2002, 18:39
Der ehemalige KGB-Offizier Putin blätterte auf der Rückbank seiner Staatslimousine ubrigens in einem Schulbändchen Alexander Sergejewitschs Novelle "Der Schuß". Dank des Lichtes der Weißen Nächte konnte er ohne Fondbeleuchtung darin lesen, ärgerte sich jedoch trotzdem, wie mir schien, ein wenig über die Tönung der Scheiben. Sein Jacket hatte er ausgezogen, da es im Sitzen ja sonst so geknittert wäre.

Etwas südwestlich von St.Petersburg, in Strelna an der Ostsee, lässt sich Putin derzeit den Konstantin-Palast (auch Großer Palast genannt) als Präsidenten-Residenz herrichten. Er verzichtet dabei angeblich auf die Verwendung von staatlichen finanziellen Mitteln. Wer jedoch mag, darf eine Spende leisten. Diese Gelegenheit nutzt der neue russische Geldadel gerne. Vor neun Jahren konnten wir den großen Saal des Palasts für 50 Dollar pro Nacht von der dort befindlichen Polarforschungs-Fachschule mieten. Die Renovierung jetzt soll recht teuer sein. Ob die Spender dann auch mal dort übernachten dürfen?

Kony Faehre
11.07.2002, 21:29
Ooooh, ja!
Hier habe ich wirklich gelernt!
Überlege nur gerade, was denn so.

SCHEISSE. DAS!

Tornatzky
11.07.2002, 22:08
Das ist, naturgemäß, eine Geschichte nach meinem Geschmack. Würde mich Ihnen, Goodwill, und Lenin zu gerne anschließen, wenn Sie das nächste Mal nach Petersburg reisen. Aber es war auch erzählt schon schön.

Lenin
11.07.2002, 22:17
Поехали!



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Я.

Tornatzky
12.07.2002, 00:13
Danke, Lenin. Ich werde darauf zurückkommen.