Herr Cohn
27.05.2002, 22:55
Das ist mein zweitausendstes Posting. Oh je. Zu dem Anlass verschieße ich jetzt mein letztes Papparazzo-Pulver, denn mehr Berühmtheiten hab ich bisher nicht getroffen - .
Ich würde es wiedertun. Sicher, damals fielen wir mit der Tür ins Haus und zeigten keinerlei Gefühl für Pietät - aber die Gelegenheit! Was für eine! Die würde ich mir heute so wenig wie damals entgehen lassen.
Was ist also passiert? Was war das für eine Gelegenheit? Und wer ist das, der mit dem grotesken Namen, welcher meiner Geschichte den Titel gibt? Also. Vor hundert Jahren war das ein bekannter Dichter, eben kein Schriftsteller oder Autor, sondern ein Dichter. Er residierte in einem Herrenhaus in der Provinz, dort, wo die Deiche am längsten sind, die Weiden am weitesten und die Melancholie am größten, er war fein und seine Vornamen lauteten Emil Rudolf Osman. Er lebte zu der Zeit, als das Wort Prinz noch ein Titel war, nicht bloß so prosaisch ein Teil des Namens wie heutzutage. Jetzt ist Emil Rudolf Osman Prinz von Schönaich-Carolath-Schilden völlig vergessen, und wie völlig, hab ich selber gesehen. Aber mit diesem Halbsatz greife ich vor -
Es ist schon zwanzig Jahre her. Ich fuhr mit Nils und seiner Freundin Rosi zu einem alten Herrenhaus in Schleswig-Holstein, dort, wo die Deiche am längsten, die Weiden am weitesten, die Melancholie am größten - und so weiter. Die Besitzer waren damals Verwandte von mir, um viele Ecken herum, jetzt sind sie es nicht mehr, denn mein entfernter Onkel hat sich von der Prinzessin längst scheiden lassen, deren Familie dort residierte. Dazu ist er selber längst tot. Aber immerhin war ich so mal ein paar Jahre mit dem Hochadel verwandt und mit dem verblichenen Kaiser persönlich. Komisch, Einer wie ich, und dann so was?
Wir fuhren also dort hin, stiegen aus dem Auto, und ein Park voll alter Eichen tat sich auf, deren Blätter gelb und schwer im blassen Licht zu Boden segelten, bei jedem Windhauch in der Stille. Wir bleichen Großstädter gingen die Allée entlang, zum Herrenhaus dort hinten, das aussah wie das kleine Schloss auf den Unox-Dosensuppen. Da klingelte es hinter uns, Ding-Dong, eine alte Dame holperte mit einem schwarzen Oma-Fahrrad fröhlich über das Kopfsteinpflaster und rief uns zu "da seid ihr ja. Willkommen!" Es war meine Tante, die weit angeheiratete. An ihrem Lenker baumelte ein Paket Kuchen. So betraten wir das Herrenhaus, es roch nach Tee und Zeit, das Herbstlicht sickerte durch hohe Fenster, knarzendes Parkett, Gemälde an den Wänden, schöne Teppiche. Rosi rutschte ein bisschen unbehaglich auf ihrem Sessel herum, Nils nicht, er kannte so etwas, ich fühlte mich wohl und fragte meine Tante nach dem Gebäude aus. Errichtet 1804 vom königlich dänischen Landbaumeister Christian Friedrich Hansen, seither von ihrer Familie bewohnt. Besonders der Park sei wunderschön, da habe sie als Kind Sommers wie Winters - "oh", sagte ich, "DA würde ich ja gern - gerade ist das Licht so schön." - "Dann seht euch mal den Park gleich an!", antwortete die Tante lächelnd, "den Tee gibt's dann später."
http://www.etemenanki.de/corpus_delicti/Schloss02.jpg
Der Park war wirklich so, wie einer sein sollte. An der Seite lag ein Teich, von ein paar Enten bewohnt, da neigten sich Bäume und späte Blumen lugten aus dem Gestrüpp. Ich mag solche verwilderten Parks, wo alle Gartenkunst in der Natur zur Ruhe gekommen ist. Wir gingen unter Baumkronen und über moosige Hügel, hoch oben in der Luft schnatterten Enten, die mit vorgestreckten Hälsen und flatternden Flügeln irgendwohin flogen, es waren die einzigen Laute.
Hinter einem vermoosten Gewächshaus tat sich eine Lichtung auf, und dort hinten stand ein merkwürdiges Gebäude. Die Bäume ringsum waren tot und so war es gut zu sehen, fleckig weiß mit einem grün angelaufenen Kuppeldach und zwei hohen ionischen Säulen beiderseits eines Portals. Der Ort war seltsam. Was mochte das sein? Als wir näherkamen, sahen wir das Monogramm auf dem Giebel über den Säulen, ein Xi und ein Rho übereinander. Aber eine Kapelle war da ja nicht? Hoch oben in den Mauern saßen halbrunde Fenster, blindes Glas steckte darin, lange Rinnsale aus feuchten Algen hatten sich darunter in den Putz gefressen. Alle Farben waren hier fahl, die toten Bäume an den Seiten hatten ihre Rinde längst verloren, das vermooste Gras unter uns war gelblich, das Grün der Kuppel war stumpf und verfleckt, es schien hier noch stiller als irgendwo. "Das ist doch ein Mausoleum", murmelte Nils. Tatsächlich. Das war unverkennbar. Der Ort atmete das. Merkwürdig, wie sich so ein Begriff Mausoleum oder Gruft in der Umgebung abdrückt, im Licht, in den Farben, so als könnte man das mit Händen greifen. Wir gingen näher, die toten Mauern ragten jetzt gleich neben uns auf, wir schritten über drei bröckelnde Stufen zwischen die Säulen und standen vor dem Portal. Gerade kam die Sonne ein bisschen heraus und goss ihr dumpfes Licht über diese schön geschnitzte, morsche, zerfressene Kassettentür. Ich sah Nils an, er sah mich an, und wir wussten plötzlich genau, was wir wollten - ich legte die Hand auf die abweisende Kühle der Klinke - sie bewegte sich keinen Millimeter. Ein Blick nach oben zu den halbrunden Fenstern verriet, dass kein Weg dort hin führte. Nils legte seine Hand prüfend auf die Rosette in der Mitte einer der Holzkassetten, rüttelte leicht daran - und sie gab nach, sie ließ sich nach oben herausheben! Ich hielt mein Gesicht an die Öffnung und spürte die dumpfe Kühle dahinter. Zu sehen war kaum etwas, die fahle Helligkeit des Holzes blendete in den Augen. Rosi sagte entschieden: "Na aber geht, was wollt ihr jetzt machen? Ohne mich. Ich bleib so lang heraußen."
Nils schob mich paternalistisch zu der Öffnung im Portal und so musste ich als erster - mit dem Oberkörper voran, und als ich hinter der Öffnung eine Hand auf den Boden stützte, ertastete ich eine kalte, schmutzige Steinplatte. Ich schob mich durch, und was ich da sah - es verschlug mir den Atem, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Der Raum war viel größer als erwartet, eine Lichtbahn sickerte schräg aus der Öffnung unterhalb einer Kuppelwölbung, streifte Stuck und Zierrat und traf auf ein weißlich verputztes, vom Zahn der Zeit benagtes Pfeilerstück, von welchem eine breite Bahn ungut grünlicher Algen wie ein zerfetzter Vorhang herabhing. Und dort hinten, dort, am anderen Ende der Kuppel, da standen drei Särge auf Podesten, in schwarzen Samt eingeschlagen! Was für ein Ort. Ich richtete mich aus meiner Hockstellung auf, denn hier musste man stehen, wer weiß, was hier - und Nils kam nicht. Seine Hände versuchten von draußen, die Holzkassette wieder an ihren Platz zu ziehen! Ich griff mir dieses Ding und zischte durch die Öffnung "wo bleibst du?" Dann erschien Nils' Kopf, und als er sah, was ich sah, kroch er fassungslos herein. Wir verschlossen die Öffnung und sahen uns um - welch eine Gruft. Mindestens sechs Meter hoch, die Kuppel noch höher, sehr lang und breit, gewölbte Decken, aschfahle Farben, Halbdunkel, Verfall überall. Dort hinten standen die drei grausigen Särge. Natürlich schlichen wir uns hin, ich ertappte mich dabei, auf Zehenspitzen aufzutreten, wie instinktiv. Der mittlere Sarg war besonders prächtig, beschlagen mit zinnernen Ornamenten, der schwarze Samt fühlte sich steinhart an unter meinen Fingerspitzen - und der Deckel war nicht verschlossen, er lag leicht schräg, offensichtlich aufgebrochen! Die morschen Sarg-Leisten hatte jemand sorgfältig nebeneinander oben drauf gelegt. Nils und ich überlegten flüsternd, wie und von wem der Sarg wohl geöffnet worden sein mochte, vielleicht von innen? Hier an diesem Ort war alles möglich. Mich beschlich langsam das kalte Grausen. Aber ich wollte mehr sehen, in dieser schweigenden prächtigen verkommenen Gruft, und ich trat neben den Sarg, dort konnte man seitlich hineinblicken - und da sah ich zwei Hände! Mumienhände! Die übereinander gelegt ware, die Rechte auf der Linken, und auf unglaublich dunklem Stoff ruhten! Ich sah sie. Es waren feine Hände, lang und elegant, trocken, sinister, die Haut hatte die Farbe von uraltem Fensterleder. Da lagen sie übereinandergelegt, seit einer Ewigkeit. Wer war das? Ein General? Ein Diplomat? Man würde es herausfinden. Aber das leichte Gefühl kalten Grausens nahm zu, hier an diesem Ort, da waren diese übereinander gelegten eleganten Mumienhände im Sarg, die Rechte auf der Linken, Nils warf einen langen Blick darauf und auch er hatte genug. Wir schlichen über den knirschenden Schmutz auf den Steinplatten zum Portal zurück, ich hob mit unsicheren Fingern die Holzkassette aus ihrer Nut und dann schoben wir uns schnell hinaus, hinaus mit einem doch recht grässlichen Gefühl im Nacken.
Draußen, aah, da waren Luft und Himmel, hier fehlten die Stickigkeit und das Grauen des Mausoleums. Weiter hinten im Park schnatterten Enten im Streifen Wassers neben den Trauerweiden, gelbe Blätter fielen poetisch auf das Gras, ich ließ mir die Sonne aufs Gesicht scheinen. Rosi erinnerte daran, dass wir zum Tee erwartet würden. Richtig! Drinnen im Salon saß schon die Tante, wir nahmen Platz, ich lobte stockend den schönen Park. Die Tante rührte ihren Tee um und erzählte in das Pling-Pling ihres Löffels hinein gemächliche Geschichten. Hinter ihr sah ich die Reihe von Räumen, die Enfilade, das Licht von draußen wurde langsam weniger. Wie angenehm war es hier auf dem weichen Sofa und der Tante zuzuhören. Links neben mir hing ein großes Gemälde in dunklen Farben, es zeigte einen Herrn in einer Uniform, dessen Augen mich ein wenig zornig anzufunkeln schienen. Das Seltsamste war gar nicht das Bild, sondern die schwere verzierte Krücke, die darunter auf zwei Konsolen an der Wand hing. Die Tante folgte meinem Blick und sagte:
"Das ist der Emil, ich habe ihn nie gekannt, er starb schon 1908, aber man hat sich immer viele Geschichten von ihm erzählt. Der Emil! Er hat schöne Gedichte geschrieben, heute kennt sie kein Mensch mehr. Die Krücke? Die trug er glaub ich seit dem Krieg siebzig-einundsiebzig, er ist als ganz junger Mensch in Frankreich verwundet worden. Seitdem ging er mit dieser Krücke. Und - soll ich euch was erzählen? Also. Seit meiner Jugend hab ich diese Geschichte gehört, dass hier manchmal jemand durch die Zimmer geht - tack, tack,tack auf dem Parkett. So, als ginge jemand an einer Krücke. Aber es ist niemand zu sehen! Einmal habe ich das auch gehört, es ging tack, Pause, tack, Pause. Keiner zu sehen! Ja, hier auf dem Land, da gibt es sowas."
So sprach die Tante. Natürlich wollte ich mehr wissen, wo dieser Emil begraben sei, ob vielleicht - aber ich hütete mich, zu fragen. Statt dessen aß ich Kuchen. Die Augen aus dem Gemälde fixierten mich.
Später brachte ich die Rede auf diesen prächtigen Kuppelbau draußen im Park. "Ja", sagte die Tante, "das ist unser Beinhaus. Habt ihr's da stehen sehen? Wir haben lange nichts mehr daran gemacht. Ich will da auf gar keinen Fall begraben werden, und mein Sohn, der sowieso nicht!" Sie trank einen Schluck vom erkalteten Tee und fuhr fort: "Damals, vor ziemlich vielen Jahren, da war Abends hier im Haus diese Unruhe. Überall knackte es, es war so - ich kannte das gar nicht. Draußen war es ruhig, kein Sturm oder so etwas! Aber hier drinnen - und am nächsten Morgen entdeckte der Verwalter, dass ins Beinhaus eingebrochen worden war. Eingebrochen! Die haben Emils Sarg aufgemacht und wohl Schmuck gesucht. Das muss man sich mal vorstellen." Die Tante schwieg entrüstet. Das war es. Die Augen aus dem Gemälde fixierten mich nicht ohne Grund. Zum Glück war es schon zu dunkel, als dass die Tante meinen Gesichtsausdruck hätte sehen können. Bald brachen wir auf.
Auf der Rückfahrt fing Nils gewaltig an zu husten und hörte nicht damit auf - er bekommt leicht quälenden Husten und den hatte er jetzt so, dass ihm die Augen tränten und er sich quälte. Ich chauffierte weiter. Aber ich fühlte mich gar nicht wohl - meine Nase lief, meine Stirn glühte! Ich bekomme sehr leicht fiebrigen Schnupfen. Rosi musste weiterfahren, ihr ging es ja gut. Nils und ich lagerten auf der Rückbank und fieberten einander vom Fluch der Pharaonen vor, für den Rest der langen Fahrt.
Ich habe erst gestern im Internet herausgefunden, dass es definitiv Emil Prinz von Schönaich-Carolath war, dessen elegante Dichterhände ich 75 Jahre nach seinem Tod da liegen gesehen habe, die Rechte auf der Linken. In einem seiner Gedichte heißt es:
Die Glut, davon des Sängers Herz geloht,
Sprengt jedes Grab und spottet jedem Tod,
Es lebt sein Geist mit uns...
Wenn das nicht passt!
Die Hände dort im Sarg haben Rilkes Hände geschüttelt, als dieser im September 1901 dort im Herrenhaus zu Gast war bei Emil, dem Dichter. Der wohl auch Schalk und Leben hatte, und nicht zu wenig! Denn eines seiner Sonette, geschrieben mit diesen Händen, das geht so:
Der Markusdom, der bunte, klangumtönte,
Hat seine Pforten gähnend aufgeschlagen,
Am Hochaltar, wo Priester Kerzen tragen,
Thront stolz der Doge, der vom Volk gekrönte.
Es lehnt an ihm in mädchenhaftem Zagen
Sein junges Weib, das holde, glückverschönte.
Ein Page, der an Schleppendienst gewöhnte,
Kniet stumm dabei in Puffenwams und Kragen.
Der Weihrauch dampft, zu Ende geht die Messe,
Es blickt verklärt die schöne Dogaresse ...
Doch sehen könnt ihr, wenn ihr näher tretet,
Daß tief im Samt, dem dunkelvioletten,
Des Pagen Hand und ihre sich verketten –
Der alte Doge kniet im Stuhl und betet.
Ich würde es wiedertun. Sicher, damals fielen wir mit der Tür ins Haus und zeigten keinerlei Gefühl für Pietät - aber die Gelegenheit! Was für eine! Die würde ich mir heute so wenig wie damals entgehen lassen.
Was ist also passiert? Was war das für eine Gelegenheit? Und wer ist das, der mit dem grotesken Namen, welcher meiner Geschichte den Titel gibt? Also. Vor hundert Jahren war das ein bekannter Dichter, eben kein Schriftsteller oder Autor, sondern ein Dichter. Er residierte in einem Herrenhaus in der Provinz, dort, wo die Deiche am längsten sind, die Weiden am weitesten und die Melancholie am größten, er war fein und seine Vornamen lauteten Emil Rudolf Osman. Er lebte zu der Zeit, als das Wort Prinz noch ein Titel war, nicht bloß so prosaisch ein Teil des Namens wie heutzutage. Jetzt ist Emil Rudolf Osman Prinz von Schönaich-Carolath-Schilden völlig vergessen, und wie völlig, hab ich selber gesehen. Aber mit diesem Halbsatz greife ich vor -
Es ist schon zwanzig Jahre her. Ich fuhr mit Nils und seiner Freundin Rosi zu einem alten Herrenhaus in Schleswig-Holstein, dort, wo die Deiche am längsten, die Weiden am weitesten, die Melancholie am größten - und so weiter. Die Besitzer waren damals Verwandte von mir, um viele Ecken herum, jetzt sind sie es nicht mehr, denn mein entfernter Onkel hat sich von der Prinzessin längst scheiden lassen, deren Familie dort residierte. Dazu ist er selber längst tot. Aber immerhin war ich so mal ein paar Jahre mit dem Hochadel verwandt und mit dem verblichenen Kaiser persönlich. Komisch, Einer wie ich, und dann so was?
Wir fuhren also dort hin, stiegen aus dem Auto, und ein Park voll alter Eichen tat sich auf, deren Blätter gelb und schwer im blassen Licht zu Boden segelten, bei jedem Windhauch in der Stille. Wir bleichen Großstädter gingen die Allée entlang, zum Herrenhaus dort hinten, das aussah wie das kleine Schloss auf den Unox-Dosensuppen. Da klingelte es hinter uns, Ding-Dong, eine alte Dame holperte mit einem schwarzen Oma-Fahrrad fröhlich über das Kopfsteinpflaster und rief uns zu "da seid ihr ja. Willkommen!" Es war meine Tante, die weit angeheiratete. An ihrem Lenker baumelte ein Paket Kuchen. So betraten wir das Herrenhaus, es roch nach Tee und Zeit, das Herbstlicht sickerte durch hohe Fenster, knarzendes Parkett, Gemälde an den Wänden, schöne Teppiche. Rosi rutschte ein bisschen unbehaglich auf ihrem Sessel herum, Nils nicht, er kannte so etwas, ich fühlte mich wohl und fragte meine Tante nach dem Gebäude aus. Errichtet 1804 vom königlich dänischen Landbaumeister Christian Friedrich Hansen, seither von ihrer Familie bewohnt. Besonders der Park sei wunderschön, da habe sie als Kind Sommers wie Winters - "oh", sagte ich, "DA würde ich ja gern - gerade ist das Licht so schön." - "Dann seht euch mal den Park gleich an!", antwortete die Tante lächelnd, "den Tee gibt's dann später."
http://www.etemenanki.de/corpus_delicti/Schloss02.jpg
Der Park war wirklich so, wie einer sein sollte. An der Seite lag ein Teich, von ein paar Enten bewohnt, da neigten sich Bäume und späte Blumen lugten aus dem Gestrüpp. Ich mag solche verwilderten Parks, wo alle Gartenkunst in der Natur zur Ruhe gekommen ist. Wir gingen unter Baumkronen und über moosige Hügel, hoch oben in der Luft schnatterten Enten, die mit vorgestreckten Hälsen und flatternden Flügeln irgendwohin flogen, es waren die einzigen Laute.
Hinter einem vermoosten Gewächshaus tat sich eine Lichtung auf, und dort hinten stand ein merkwürdiges Gebäude. Die Bäume ringsum waren tot und so war es gut zu sehen, fleckig weiß mit einem grün angelaufenen Kuppeldach und zwei hohen ionischen Säulen beiderseits eines Portals. Der Ort war seltsam. Was mochte das sein? Als wir näherkamen, sahen wir das Monogramm auf dem Giebel über den Säulen, ein Xi und ein Rho übereinander. Aber eine Kapelle war da ja nicht? Hoch oben in den Mauern saßen halbrunde Fenster, blindes Glas steckte darin, lange Rinnsale aus feuchten Algen hatten sich darunter in den Putz gefressen. Alle Farben waren hier fahl, die toten Bäume an den Seiten hatten ihre Rinde längst verloren, das vermooste Gras unter uns war gelblich, das Grün der Kuppel war stumpf und verfleckt, es schien hier noch stiller als irgendwo. "Das ist doch ein Mausoleum", murmelte Nils. Tatsächlich. Das war unverkennbar. Der Ort atmete das. Merkwürdig, wie sich so ein Begriff Mausoleum oder Gruft in der Umgebung abdrückt, im Licht, in den Farben, so als könnte man das mit Händen greifen. Wir gingen näher, die toten Mauern ragten jetzt gleich neben uns auf, wir schritten über drei bröckelnde Stufen zwischen die Säulen und standen vor dem Portal. Gerade kam die Sonne ein bisschen heraus und goss ihr dumpfes Licht über diese schön geschnitzte, morsche, zerfressene Kassettentür. Ich sah Nils an, er sah mich an, und wir wussten plötzlich genau, was wir wollten - ich legte die Hand auf die abweisende Kühle der Klinke - sie bewegte sich keinen Millimeter. Ein Blick nach oben zu den halbrunden Fenstern verriet, dass kein Weg dort hin führte. Nils legte seine Hand prüfend auf die Rosette in der Mitte einer der Holzkassetten, rüttelte leicht daran - und sie gab nach, sie ließ sich nach oben herausheben! Ich hielt mein Gesicht an die Öffnung und spürte die dumpfe Kühle dahinter. Zu sehen war kaum etwas, die fahle Helligkeit des Holzes blendete in den Augen. Rosi sagte entschieden: "Na aber geht, was wollt ihr jetzt machen? Ohne mich. Ich bleib so lang heraußen."
Nils schob mich paternalistisch zu der Öffnung im Portal und so musste ich als erster - mit dem Oberkörper voran, und als ich hinter der Öffnung eine Hand auf den Boden stützte, ertastete ich eine kalte, schmutzige Steinplatte. Ich schob mich durch, und was ich da sah - es verschlug mir den Atem, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Der Raum war viel größer als erwartet, eine Lichtbahn sickerte schräg aus der Öffnung unterhalb einer Kuppelwölbung, streifte Stuck und Zierrat und traf auf ein weißlich verputztes, vom Zahn der Zeit benagtes Pfeilerstück, von welchem eine breite Bahn ungut grünlicher Algen wie ein zerfetzter Vorhang herabhing. Und dort hinten, dort, am anderen Ende der Kuppel, da standen drei Särge auf Podesten, in schwarzen Samt eingeschlagen! Was für ein Ort. Ich richtete mich aus meiner Hockstellung auf, denn hier musste man stehen, wer weiß, was hier - und Nils kam nicht. Seine Hände versuchten von draußen, die Holzkassette wieder an ihren Platz zu ziehen! Ich griff mir dieses Ding und zischte durch die Öffnung "wo bleibst du?" Dann erschien Nils' Kopf, und als er sah, was ich sah, kroch er fassungslos herein. Wir verschlossen die Öffnung und sahen uns um - welch eine Gruft. Mindestens sechs Meter hoch, die Kuppel noch höher, sehr lang und breit, gewölbte Decken, aschfahle Farben, Halbdunkel, Verfall überall. Dort hinten standen die drei grausigen Särge. Natürlich schlichen wir uns hin, ich ertappte mich dabei, auf Zehenspitzen aufzutreten, wie instinktiv. Der mittlere Sarg war besonders prächtig, beschlagen mit zinnernen Ornamenten, der schwarze Samt fühlte sich steinhart an unter meinen Fingerspitzen - und der Deckel war nicht verschlossen, er lag leicht schräg, offensichtlich aufgebrochen! Die morschen Sarg-Leisten hatte jemand sorgfältig nebeneinander oben drauf gelegt. Nils und ich überlegten flüsternd, wie und von wem der Sarg wohl geöffnet worden sein mochte, vielleicht von innen? Hier an diesem Ort war alles möglich. Mich beschlich langsam das kalte Grausen. Aber ich wollte mehr sehen, in dieser schweigenden prächtigen verkommenen Gruft, und ich trat neben den Sarg, dort konnte man seitlich hineinblicken - und da sah ich zwei Hände! Mumienhände! Die übereinander gelegt ware, die Rechte auf der Linken, und auf unglaublich dunklem Stoff ruhten! Ich sah sie. Es waren feine Hände, lang und elegant, trocken, sinister, die Haut hatte die Farbe von uraltem Fensterleder. Da lagen sie übereinandergelegt, seit einer Ewigkeit. Wer war das? Ein General? Ein Diplomat? Man würde es herausfinden. Aber das leichte Gefühl kalten Grausens nahm zu, hier an diesem Ort, da waren diese übereinander gelegten eleganten Mumienhände im Sarg, die Rechte auf der Linken, Nils warf einen langen Blick darauf und auch er hatte genug. Wir schlichen über den knirschenden Schmutz auf den Steinplatten zum Portal zurück, ich hob mit unsicheren Fingern die Holzkassette aus ihrer Nut und dann schoben wir uns schnell hinaus, hinaus mit einem doch recht grässlichen Gefühl im Nacken.
Draußen, aah, da waren Luft und Himmel, hier fehlten die Stickigkeit und das Grauen des Mausoleums. Weiter hinten im Park schnatterten Enten im Streifen Wassers neben den Trauerweiden, gelbe Blätter fielen poetisch auf das Gras, ich ließ mir die Sonne aufs Gesicht scheinen. Rosi erinnerte daran, dass wir zum Tee erwartet würden. Richtig! Drinnen im Salon saß schon die Tante, wir nahmen Platz, ich lobte stockend den schönen Park. Die Tante rührte ihren Tee um und erzählte in das Pling-Pling ihres Löffels hinein gemächliche Geschichten. Hinter ihr sah ich die Reihe von Räumen, die Enfilade, das Licht von draußen wurde langsam weniger. Wie angenehm war es hier auf dem weichen Sofa und der Tante zuzuhören. Links neben mir hing ein großes Gemälde in dunklen Farben, es zeigte einen Herrn in einer Uniform, dessen Augen mich ein wenig zornig anzufunkeln schienen. Das Seltsamste war gar nicht das Bild, sondern die schwere verzierte Krücke, die darunter auf zwei Konsolen an der Wand hing. Die Tante folgte meinem Blick und sagte:
"Das ist der Emil, ich habe ihn nie gekannt, er starb schon 1908, aber man hat sich immer viele Geschichten von ihm erzählt. Der Emil! Er hat schöne Gedichte geschrieben, heute kennt sie kein Mensch mehr. Die Krücke? Die trug er glaub ich seit dem Krieg siebzig-einundsiebzig, er ist als ganz junger Mensch in Frankreich verwundet worden. Seitdem ging er mit dieser Krücke. Und - soll ich euch was erzählen? Also. Seit meiner Jugend hab ich diese Geschichte gehört, dass hier manchmal jemand durch die Zimmer geht - tack, tack,tack auf dem Parkett. So, als ginge jemand an einer Krücke. Aber es ist niemand zu sehen! Einmal habe ich das auch gehört, es ging tack, Pause, tack, Pause. Keiner zu sehen! Ja, hier auf dem Land, da gibt es sowas."
So sprach die Tante. Natürlich wollte ich mehr wissen, wo dieser Emil begraben sei, ob vielleicht - aber ich hütete mich, zu fragen. Statt dessen aß ich Kuchen. Die Augen aus dem Gemälde fixierten mich.
Später brachte ich die Rede auf diesen prächtigen Kuppelbau draußen im Park. "Ja", sagte die Tante, "das ist unser Beinhaus. Habt ihr's da stehen sehen? Wir haben lange nichts mehr daran gemacht. Ich will da auf gar keinen Fall begraben werden, und mein Sohn, der sowieso nicht!" Sie trank einen Schluck vom erkalteten Tee und fuhr fort: "Damals, vor ziemlich vielen Jahren, da war Abends hier im Haus diese Unruhe. Überall knackte es, es war so - ich kannte das gar nicht. Draußen war es ruhig, kein Sturm oder so etwas! Aber hier drinnen - und am nächsten Morgen entdeckte der Verwalter, dass ins Beinhaus eingebrochen worden war. Eingebrochen! Die haben Emils Sarg aufgemacht und wohl Schmuck gesucht. Das muss man sich mal vorstellen." Die Tante schwieg entrüstet. Das war es. Die Augen aus dem Gemälde fixierten mich nicht ohne Grund. Zum Glück war es schon zu dunkel, als dass die Tante meinen Gesichtsausdruck hätte sehen können. Bald brachen wir auf.
Auf der Rückfahrt fing Nils gewaltig an zu husten und hörte nicht damit auf - er bekommt leicht quälenden Husten und den hatte er jetzt so, dass ihm die Augen tränten und er sich quälte. Ich chauffierte weiter. Aber ich fühlte mich gar nicht wohl - meine Nase lief, meine Stirn glühte! Ich bekomme sehr leicht fiebrigen Schnupfen. Rosi musste weiterfahren, ihr ging es ja gut. Nils und ich lagerten auf der Rückbank und fieberten einander vom Fluch der Pharaonen vor, für den Rest der langen Fahrt.
Ich habe erst gestern im Internet herausgefunden, dass es definitiv Emil Prinz von Schönaich-Carolath war, dessen elegante Dichterhände ich 75 Jahre nach seinem Tod da liegen gesehen habe, die Rechte auf der Linken. In einem seiner Gedichte heißt es:
Die Glut, davon des Sängers Herz geloht,
Sprengt jedes Grab und spottet jedem Tod,
Es lebt sein Geist mit uns...
Wenn das nicht passt!
Die Hände dort im Sarg haben Rilkes Hände geschüttelt, als dieser im September 1901 dort im Herrenhaus zu Gast war bei Emil, dem Dichter. Der wohl auch Schalk und Leben hatte, und nicht zu wenig! Denn eines seiner Sonette, geschrieben mit diesen Händen, das geht so:
Der Markusdom, der bunte, klangumtönte,
Hat seine Pforten gähnend aufgeschlagen,
Am Hochaltar, wo Priester Kerzen tragen,
Thront stolz der Doge, der vom Volk gekrönte.
Es lehnt an ihm in mädchenhaftem Zagen
Sein junges Weib, das holde, glückverschönte.
Ein Page, der an Schleppendienst gewöhnte,
Kniet stumm dabei in Puffenwams und Kragen.
Der Weihrauch dampft, zu Ende geht die Messe,
Es blickt verklärt die schöne Dogaresse ...
Doch sehen könnt ihr, wenn ihr näher tretet,
Daß tief im Samt, dem dunkelvioletten,
Des Pagen Hand und ihre sich verketten –
Der alte Doge kniet im Stuhl und betet.