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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Jospin, Lionel (und 60 Freiburger Bürger müssen warten)



Lilaxista
30.04.2002, 21:00
Ein Blick beim Frühstück auf die an der Wand hängenden Bibliothekskonten bestätigte: drei Bücher in der Stadtbücherei abzugeben.
Also packte ich meine Tasche und machte mich mit meinem Sohn auf dem Fahrrad in Richtung Stadt auf. Die Sonne schien, prächtiges Wetter. Ganz in alltagstrottelige Gespräche vertieft fuhren wir dahin und mussten kurz vor der großen Dreisambrücke an der Ampel stehen bleiben. Das Münster war schon in Sichtweite.
Doch was war das?

Statt des vorbeirauschenden Querverkehrs sahen wir Stehengebliebenen nur: Polizisten. Polizisten, die mit weit ausufernden Armbewegungen das ganze Brückenterrain gegen Eindringlinge abzusichern begannen. Die Ampel sprang auf grün. Kein Weiterfahren mehr.
Hinter uns staute sich der Verkehr, Fahrradfahrer preschten von hinten an den wartenden Autos vorbei, um dann letztlich doch wie wir stehen bleiben zu müssen. Auch Fußgängern war das Fortbewegungsrecht entzogen worden. Menschentrauben blickten fragend.
Etwas weiter vorne: aufgehaltene Passanten und Polizisten in erregtem Gespräch. Getuschel, Gelächter unter den Fahrradfahren, ich war inzwischen vom Fahrrad abgestiegen und drängte mich mit anderen vor, um wenigstens einen sichtgünstigen Stehplatz an der Brückenbrüstung zu ergattern, irgendetwas bahnte sich ja an.

Bald hatte auch mich das Wort: Deutsch-Französischer Gipfel erreicht, stimmt, da war doch was, ach so, heute? Gerhard Schröder, ja, und dazu noch die französische Prominenz, die Stadt im Ausnahmezustand. Von irgendwoher raunte es ‚Jospin’. Und ich wollte doch nur drei Bücher in die Stadtbücherei bringen.
Aber wer Freiburg kennt, der weiß, dass dieses Städtchen sich gerne gewaltig herausputzt, wenn die Scheinwerfer der Welt auf es gerichtet sind, die Tour de France im Jahr zuvor war ein Paradebeispiel gewesen. Aus einer kleinen Touretappe hatte man da drei Tage flächendeckendes Volksfest gemacht, aber mit allem was dazu gehört, kein Entkommen, meine Güte, und nun heute der Gipfel. (Tatsächlich war es unglaublich, welch ein Aufgebot an verschiedenfarbigen Polizisten, Girlanden, Fähnchen, Absperrungen und Bühnen wir später im Innenstadtbereich erblickten.)
Und wir warteten und warteten.
Auf was eigentlich?

Ich hatte ja Zeit, hatte nichts weiter vor an diesem Vormittag, aber immer neue Beschwerdeführer kamen nach vorne, wild entschlossen die Absperrung zu durchbrechen. Keine Chance, alle wurden zurückgeschickt, niemand durfte passieren, nicht ein einziger. Es gab keine Ausnahme.
Unser kleines Grüppchen an vorderster Front bildete schon bald eine Schicksalsgemeinschaft wie ein Drehbuchschreiber für den klassischen Katastrophenfilm sie kaum schöner hätte zusammenstellen können (lediglich der obligatorische, um Insulingabe bettelnde Diabetiker fehlte). Besonders laut meldeten sich:
Der Arzt, der, ein Papiercouvert mit Röntgenbildern in der Hand, schnell wieder in seine vor leidenden Patienten berstende Praxis musste.
Nichts zu machen.
Die Frau, deren Säugling zu Hause erbärmlich schreiend auf die nahrungspendene (und überdies schmerzhaft gefüllte) Mutterbrust wartete.
Kein Mitleid.
Der junge Mann, der einen dringenden Geschäftstermin hatte.
Musste warten.
„Unverschämtheit!“, hörte man, und: „Das ist ja wohl nicht zu fassen!!!“, „Hören Sie, ich MUSS durch“, „Auf was warten wir hier eigentlich???“
Dazwischen Gewitzele und Gekichere und die beruhigende Stimme des Polizisten:
Nein, es sei unmöglich Ausnahmen zu machen, ließe man einen hinüber, so stünde schon der nächste mit einer eben so dringlichen Erklärung bereit, es täte ihm leid.

Wir mussten uns fügen. Jetzt hieß es, der Situation das Beste abzugewinnen. Und so versuchten wir uns wenigstens als auserwählte Statisten in einem Zwischenakt dieses historischen Gipfeltreffens zu betrachten. Was nicht ganz leicht war, denn es passierte ja nichts, außer, dass die Anzahl der Wartenden immer größer wurde und die Polizisten, sehr engagiert und beständig mit dem unsichtbaren Koordinator Funkkontakt haltend, die Menschenmasse in ihre Schranken wies.
Auf was wir da genau warteten wusste freilich niemand.
Dass ES aber näher kam, das spürten wir, nicht zuletzt am langsam immer lauter werdenden Hubschraubergedröhn.
ES musste etwas Großes sein.
Große Politik, Großes Weltgeschehen.
Mindestens so Groß wie die Tour de France.
Eine Assoziation, die wohl den meisten kam, angesichts der um Atem ringenden, hälsereckendenden Menschenschar und der dazu in grotesken Missverhältnis stehenden, vollkommen leeren Straße.
Aber jetzt war es ganz nah.
Die Hubschrauber waren in Sichtweite, der Brückenboden begann zu beben „Jetzt kommen bestimmt gleich die Reklamewagen!“ rief einer, wir lachten, aber nein, keine Reklamewagen, sondern schwarze Limousinen mit schwarzen Scheiben rauschten da, elegant die Kurve nehmend, an uns, dem unfreiwillig angestauten Publikum vorbei, vier, fünf, sechs, das war’s.
Die Polizisten gaben den Weg wieder frei.
Keine Zehn Sekunden hatte das Ereignis gedauert.
DAS WAR’S? DAFÜR hatte ein hungriger Säugling eine Viertelstunde lang vergeblich nach Nahrung schreien müssen, hatten leidende Patienten, hatten unbescholtene Bürger ausharren müssen, unwissend wie lange und wozu?
Wirklich eine Frechheit.


P.S. Hätten wir nicht später in der Stadtbücherei, quasi als Entschädigung, eine papierne Frankreichfahne geschenkt bekommen, ich weiß nicht, ob ich noch länger Befürworterin deutsch-französischer Freundschaftsbestrebungen gewesen wäre.
So aber fuhren wir besänftigt nach Hause, mein Sohn hielt stolz und glücklich SEINE Fahne in der Hand und wies ihr einen Ehrenplatz im Kinderzimmer zu.
Kurz darauf fuhren wir das erste Mal nach Frankreich, und mein Bub stieß jedes Mal Laute des Entzückens hervor wenn er irgendwo die Trikolore erblickte. SEINE Fahne hatten die hier gehisst!! Um IHN zu begrüßen!
Ich ließ ihm seinen Glauben.
Auch Missverständnisse befördern zuweilen die Völkerverständigung.

P.P.S. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, Chirac war an diesem Tag auch dabei, in Freiburg. Er musste aber schon vorher eingetroffen sein, denn alles um mich herum sprach nur davon, dass Jospin noch erwartet werde. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass es Jospin war, der an uns vorbei fuhr, ja, ich glaube ganz fest daran.

Walter Schmidtchen
30.04.2002, 21:12
warum les ich bloß Touretappe anders als Touretappe?

Herr Weber
30.04.2002, 21:13
Sehr schön, wie immer. Und richtig spannend.

Hoffen wir mal, dass es nicht Le Pen war.