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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Thierse, Wolfgang (mag Geschwindigkeit)



Lenin
27.02.2002, 03:25
„Das nenne ich Tempo!“ Das ist der erste Satz, den Wolfgang Thierse zur Einweihung der Backfabrik in Berlin findet. Wo früher unten das Cookie’s war, sind jetzt, zwei Jahre später, 24.000 qm überwiegend unvermieteter Bürofläche. Der Präsident sieht etwas rot im Gesicht aus, zappelt hinter dem Pult, als müsse er eigentlich austreten. Teile der Festgesellschaft beginnen sich schon lautstark dem Büffet zu widmen. Der Bauherr hat das Musikprogramm eben um zwei Stücke gekürzt. Jetzt tritt Thierse nach vorne und kann endlich reden. Er meint nicht die vorzeitig das Büffet Nutzenden als er sagt: „Das nenne ich Tempo!“ Aber da hatte ich schon eine Beschleunigung mit ihm erlebt.

Aber der Reihe nach. Ich hatte mir das neue Prunkstück unseres Bezirks ja nur mal anschauen wollen. Ich strolchte durch das Gebäude und war zufällig auf der Eröffnung im Dachgeschoss gelandet. Am Aufzug war ein Schild „Zur Garderobe“, und mit dem Liftmann fuhr ich aus der Partyetage hinunter. Als ich den Aufzug verließ, wurde dieser von einer Gruppe Gästen betreten. Hinter diesen kam Thierse auf mich zugestürmt. Schnurstracks. Oh Gott, ich musste sofort an eine schlichte Geschichte in diesem Forum denken. Er wollte den Lift erwischen. Ich wich ihm aus, verließ den mit Teelichten umrandeteten Ehrenteppich, auf dem er mir entgegenschritt. Er ging wirklich schnell. Er verschwand mit seinen Bodyguards im Aufzug; ich gab meine Jacke an der Garderobe ab.

So erleichtert kam ich zum Aufzug. Die Tür ging auf und ich schaute in Thierses Gesicht. Der Präsident im Aufzug und seine Entourage hatten auf mich gewartet. Sein Gesicht war etwas ungeduldig. „Da ist doch noch Platz für mich“, sagte ich und stieg zu. Der zweite Mann im Staat trat zurück, ein bisschen zumindest, es wurde eng. Die Tür schloss sich. Der Aufzug stand. Die Tür öffnete sich und wir sahen wieder in die Garderobe. Nervosität. Der Liftmann war irgendwo hinten eingekeilt. Wieder schloss sich die Tür vor meiner Nase. Thierse rechts hinter mir, ich links vor ihm. Eine Protokollfrage tauchte in meinem Kopf auf: Soll ich den Lift vor Thierse verlassen?

Die Tür ging wieder auf. Ich fragte nach hinten, ob wir zu schwer seien. Keine Antwort. Raus wollte natürlich keiner, ich auch nicht. Alle wollten schnell zu den Trögen und einmal mit Thierse Lift fahren. Der Liftmann hatte sich endlich aus seiner Ecke nach vorne gewurschtelt. Er war total verschwitzt, die Situation nagte an seinen Nerven, sein Lift bremste den Aufschwung Ost. Als der Schlitz sich wieder verengte, drückte er nun die Türflügel mit beiden Händen in der Mitte kräftig zusammen. Zurück blieben vor meinem Gesicht zwei fettigfeuchte Abdrücke auf dem Edelmetall. Von hinten links hörte ich ein Kommando von Thierse: „Jetzt aber umso schneller!“ Wir hoben ab und der Lift beschleunigte sehr stark. Oben verließ ich ihn als Erster.

Gandhi
27.02.2002, 03:55
Non plus ultra.

zoegernitz
27.02.2002, 04:55
plus quam perfekt!

Klingeltonk
27.02.2002, 10:26
Wie heißt es in Konzertrezensionen?
"Er hat ein untrügliches Gespür für die richtigen Tempi..."

DonDahlmann
27.02.2002, 11:12
Das geht ja ab. Mit Thierse im Lift eingeklemmt zu sein, stelle ich mir auch nicht so schön vor. Irgendwie hat der Mann etwas komisches, wie auch mal meine 12 Jahre jüngere Schwester bemerkte. Sie sah den politischen Zottelbären kurz nach der Wende im Fernsehen und meinte: "Der soll sich rasieren, das stinkt doch." Ich gebe zu, das sich diese Assoziation nicht mehr aus meinem Hirn rausbekommen habe.

vir
27.02.2002, 11:26
Ich musste gerade an ein Lied von Kraan denken, 'Lonesome Liftboy'.
Dass es in Berlin noch Liftmänner gibt, finde ich eigenartig. Ist das eine ABM für den, ahem, Aufzug Ost?

Goodwill
27.02.2002, 19:21
Das nenne ich auch Tempo: Kaum erlebt, schon niedergeschrieben - oder sollte ich sagen: schön niedergeschrieben?
Unser Bundestagsstrubbelpräsident geht dem Kontakt mit dem Fußvolk nicht aus dem Weg. Aus der Nähe wirkt er übrigens wesentlich jünger als in TV-Natura, geradezu bubenhaft. Mir ist er mal vor Jahren im Wahlkampf begegnet. Es war Mittag, es war heiß und es war vor einem trostlosen Supermarkt. Thierse stand mit Begleiter unter einem SPD-Sonnenschirm und hielt angestrengt Rosen feil. Weil sonst niemand da war, bekam auch ich vom hemdsärmeligen Kandidaten eine Rose überreicht. Ich sagte: "Danke. Aber ich wähle Sie trotzdem nicht."

Goodwill
27.02.2002, 19:25
Worauf Thierse fragte, wen denn dann. Ich nannte den Namen einer Partei. Der Name der Spitzenkandidatin fiel mir nicht ein. Worauf Thierse tief Luft holte und dann meinem Handeln Dummheit attestierte, darauf verwies, dass es knapp würde und dank meinem Verhalten der PDS (mit ihrem Kanditaten Stephan Heym) das Mandat für Berlin Mitte zufiele. Dann sagte er: "Vielleicht überlegen Sie es sich ja nochmal."
Die Rose habe ich behalten, getrocknet und beim nächsten Umzug weggeschmissen. Meine Meinung habe ich ungetrocknet behalten. Thierse verlor das Direktmandat.

D. John
05.03.2002, 00:45
Thierse beschleunigt!
Ach ja, solche Stories liest man doch gern.

slowtiger
18.05.2003, 17:47
Draußen zu frühstücken scheint mir immer mehr Pflicht als Vergnügen, ich sitze zuhause und sehe draußen Sonne und denke dann, dies könnte ja schon wieder der allerletzte Sonnentag im Jahr sein und den muß man nutzen, sonst ärgert man sich hinterher. Also sitze ich schon wieder am Beginn der Kollwitzstraße auf einer Bierbank ohne Rückenlehne und warte darauf, daß der Kaffee wirkt, das dauert aber. Ich sollte von Milchkaffee umsteigen auf Mokka, ich hab das Gefühl, da ist viel zuviel Flüssigkeit um das bißchen Wirkstoff.

Das rothaarige Mädchen neben mir hat schwarzgefärbte Haare, sieht dementsprechend blaß aus und trägt eine Handtasche, die aus einer in Hamburg erlegten Domina geschneidert ist: Leopardenfell und Lack und Schnürung. Ansonsten ist sie 20 und beim Arbeitsamt beschäftigt und ißt mir die Oliven vom Teller. Aus Richtung Fernsehturm ziehen dunkle Wolken auf, und wir sind uns einig, daß die drei neuen Gebäude auf der anderen Seite sehr viel häßlicher sind als die Baulücke mit Ziegelsteinhaufen, die vorher dort war.

Ein kleines Mädchen in weißem Keid führt eine Gruppe Erwachsener an, alle in etwas, das man früher Sonntagsstaat nannte, und ich lästere noch, die Kleine würde nun gleich in die Türkei zwangsverheiratet, so hochzeitlich wirkt das Kleid. Aus derselben Richtung wie die Regenwolken kommen sie geschritten, sie haben Zeit, unterhalten sich leise, Touristen sind es nicht, denn die hätten mehr Gepäck.

Die ersten Tropfen fallen, wir greifen unsere Tassen und Teller und flüchten ins Caféinnere. In der Gruppe ist einer mit Vollbart, schon fast vorbei, als ich ihn erkenne. Der Herr Thierse? sagt mein Gegenüber, achja, der soll hier um die Ecke wohnen. Der geht hier öfters zum Gottesdienst. Ich streife in der Hast ein Glas vom Tisch und nässe die schöne blasse Frau, die sich deswegen weit weg von mir setzt. Als meine Hose wieder trocken ist, geht draußen ein Wolkenbruch nieder.

Herr Thierse trug eine kleine Papiertüte mit aufgedruckten bunten Blumen.

DREA
19.09.2003, 15:57
Manchmal muss man mit Menschen Zeit verbringen, deren Parteizugehörigkeit und sonstigen Ueberzeugungen einem eher fremd sind. Die Gruende fuer solche Zusammentreffen sind vielfaeltig. Mal liegen sie im geschaeftlichen Bereich, mal im gesellschaftlichen, mal will oder kann man Anhaengern der CDU, SPD, FDP, PDS, Buendnis90/DieGruenen nicht entgehen, weil es sich um Verwandte oder Freunde handelt.

Gestern Abend hockte ich mehr oder minder ueberraschend mit einer Gruppe CDUler aus Castrop-Rauxel zusammen. Die war auf Einladung des Bundespresseamtes zu einem dreitaegigen Berlin-Besuch eingeladen worden und sass nun, stinksauer darueber, im schlampigen Ibis-Hotel am Prenzlauer Berg untergebracht zu sein, vor einer Kneipe auf der Knaackstrasse, um sich ihren zwischen Stasizentrale und unterdurchschnittlicher Zimmerausstattung aufgebauten Frust weg zu trinken.

Das funktionierte wohl recht gut, denn als ich wie bestellt gegen 22 Uhr zu der Gruppe stiess, waren die Herren Funktionaere und ihre mitgereisten Gattinnen, allen voran meine Ex-Schwaegerin Sabine, schon so angeschickert, dass sie das Auftreten und Aussehen der Passanten lautstark kommentierten. Vor meinem Eintreffen waren wohl schon ein paar minore Seriendarsteller gesichtet worden, und so war die Gruppe auf "ey, Promispotting ey" gepolt.

Gegen 23:30 Uhr verstummte das Bitching plötzlich, um Sekunden spaeter einem grossen Geraune zu weichen:

"Hoemma Hugo, dat ist doch der Thierse, oda?"
"Kann ga nich sein, dat sind doch keine Boddi Gaads, die der da dabei hat."
"Nu kuck Du doch ma hin Sabine, du kennz doch imma alle".
"Thierse, Wolfgang. Bundestagsvorsitzender. Einwandfrei."
" Und einem im Kahn hatta auch. Kuck mal, wie der am Taumeln iss..."

Thierse taumelnd wollte ich mir natuerlich nicht entgehen lassen, also drehte ich mich um. Und da schwankte er tatsaechlich. In freundlicher Armverhakung mit einem seiner zwei Begleiter, mitten auf der Fahrbahn der Knaackstrasse. Offensichtlich hatte er einen guten Abend gehabt und war blendender Laune. Als er die aufmerksamen Castrop-Rauxler wahr nahm, steuerte er ein wenig mehr in Richtung Buergersteig und machte mit der freien Hand froehlichst grinsend Winkwinke zur Tischgesellschaft.

Sabine wollte spontan zurueck winken, kam aber nicht wirklich dazu, weil Hugo ihr mitten in der Bewegung auf die Finger haute und dazu zischte "Wer weiss, wat der fuern Dreck am Stecken hat. Ex-IMs gruesst Du mir nicht, meine Liebe!"

Aber das hat Herr Thierse wohl ebensowenig mitbekommen wie den kleinen, folgenden Ehestreit, denn inzwischen war er am Eingang der Nachbarkneipe angekommen und die wollte er offenbar dringend noch einkehren.

Sabine waehlt uebrigens schon lange nicht mehr CDU, allein schon um Hugo zu aergern.

Aleks
24.03.2004, 13:25
Wolfgang Thierse ist der Prototyp des anständigen, redlichen Menschen, denn niemand außer ihm kann Wörter wie "Unrecht" oder "Gewissen" so schön authentisch aussprechen. Das glaubte ich. Jedenfalls bis zu diesem Tag im März 2002. Draußen war es blödsinnig kalt, es regnete zudem in Strömen, und daher kamen außer mir noch zahlreiche andere kluge Menschen auf die Idee, sich in den Gropiusbau zu begeben, um sich die Ausstellung über die Antike anzusehen. Infolgedessen waren Perikles und Polyklet eingebettet in eine wabernde, feuchte Masse aus tropfenden Plastikjacken und stinkendem Kopfhaar. Ich saß vorzugsweise im Innensaal herum, dem einzigen Raum, in dem man Luft holen konnte. Der kreisrunde Saal war zum Lichthof umgebaut worden, und seine Wände waren von schwebenden weißen Tüchern verhüllt. In seiner Mitte stand eine meterhohe Statue der Siegesgöttin und, gleich daneben und viel viel kleiner, Wolfgang Thierse, gekleidet in erdfarbene Gewänder, wobei er in der oberen Körperhälfte die Wüste Gobi und darunter die Magdeburger Börde imitierte. Er war offenbar allein, und schaute sich fortwährend nervös um, nach rechts, links, oben, hinten, als ob er auf ein unberechenbares Unheil wartet. Ich benehme mich ähnlich, wenn ich einen Raum nach Spinnen absuche. Oder aber: Er suchte einen Augenblick, in dem ihn niemand beobachtete, was relativ kompliziert sein muß, wenn man Bundestagspräsident ist und wenn man im Zentrum eines überfüllten Saales steht, direkt neben einer riesigen weißen Göttin. Am Sockel der Göttin prangte, auch aus meiner Entfernung deutlich lesbar, ein Verbotsschild: Berühren der Statue verboten. Die kleinen schnellen Augen von Thierse bewegten sich wieder hoch und runter, vor und zurück, streiften kurz das Verbotsschild, dann nochmal, ruhten diesmal etwas länger auf dem Schild, dann wieder nervös hin und her. Und dann geschah es. Der anständige Wolfgang Thierse streckte seinen Arm aus und berührte kurz und scheu den Fuß der Göttin. Ruckartig zog er ihn wieder zurück und schaute wieder hektisch umher. Dann breitete sich Stolz in seinem behaarten Gesicht aus. Ich freute mich mit ihm.

Annelix
24.03.2004, 16:03
Der in wüste Börde gekleidete Bundestagspräsident stand inmitten der feuchten Masse mit stinkendem Kopfhaar (wer jetzt?), berührte den Fuß der Göttin und freute sich. Und Sie mit. Und ich mich über die schöne Geschichte.