Lenin
18.02.2002, 02:37
Auf einer Eisenbahn-Fahrt im August 1990 wollte ich telefonieren. In der ersten Klasse gab es damals „Münzfernsprechapparate“, die bei Verspätungen sinnvoll waren, doch das Telefonieren in fahrenden Zügen funktionierte auch damals schon schlecht. Ich durchquerte die erste Klasse, fand das Telefon am Ende des Zuges und hatte beim ersten Anruf wenig Glück: kein Anschluss, aber mein letztes Münz-Geld war weg. Man benötigte für die Geräte 50-Pfennig-Stücke.
Ich sprach einen weißhaarigen Herrn an, der nahe dem Telefon Papiere studierend saß und erkannte, dass ich mit Carl-Friedrich von Weizsäcker redete, dem Bruder des damaligen Bundespräsidenten. Das elektrisierte mich aus dreierlei Gründen: Erstens war der ehemalige Atomphysiker und Friedensforscher von Weizsäcker ein recht bekannter Mann, zweitens hatte ich mich ein Jahr zuvor in einem Seminar mit den Anfängen des Atomzeitalters beschäftigt und darin auch mit der Frage, ob Werner Heisenberg (unter Assistenz Weizsäckers) im Zweiten Weltkrieg eine deutsche Atombombe hätte entwickeln wollen und drittens trug meine damalige Freundin einen seltenen Vornamen, der ihr im Andenken an eine Nichte der Weizsäcker-Brüder gegeben worden war, ihre Mutter war eine Freundin jener früh verstorbenen Nichte gewesen.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, wer im Rahmen der Tauschaktion (1 zu 2: eine DM gegen zwei Fünfziger) das Gespräch begann, fürchte jedoch, dass ich es war. Die Bundesregierung hatte gerade der DDR-Bevölkerung die D-Mark geschenkt, der DFB in Italien das Fußball-WM-Finale gewonnen und der Bruder meines Geldwechslers hatte dieses Spiel zum Anlass einer Fußball-Pilger-Reise nach Rom genommen und so dem nationalen Taumel zusätzlichen Schwung gegeben. Einige kritisierten Richard von Weizsäcker dafür. Ich auch.
Ich fragte also, wie er zum römischen Stadion-Auftritt seines jüngeren Bruders stünde. In der Sache ausweichend, mit angenehmer Stimme, aber überraschend offen erzählte mir der nette Herr, dass sein Bruder schon immer eine Vorliebe für Reden und öffentliche Auftritte gehabt hätte. Mit seinem Einverständnis setzte ich mich neben ihn. Er fuhr fort: Bereits in der Schule habe sein Bruder gerne die Aula mit seiner geschliffenen Sprache in den Bann gezogen. Gegen die wissenschaftliche und erfahrungsmäßige Übermacht seiner älteren Geschwister habe er gewissermaßen das rhetorische Schutzschild in die Hand genommen und bis heute behalten. Reden machten ihn beliebt. Während er das sagte, schimmerte ein bisschen des älteren Bruders Herablassung durch. Ich bemühte mich, deren Bemerken widerum mir nicht anmerken zu lassen, obwohl sie angesichts des hohen Alters, in dem sich die beiden befanden, ein wenig komisch wirkte.
Wie denn diese Rhetorik auf mich wirkte, fragte er nun seinerseits. Ich kritisierte ein wenig seine Auftritte, insbesondere den in Rom, aber auch, dass er bei der Vereinnahmung der DDR zuviel der Kohl-Regierung überlasse. Wir sprachen noch ein wenig über Wiedervereinigung Deutschlands, jedoch nichts, was mir heute noch erinnerlich ist. Dann zog ich mich zum Münzfernsprecher zurück, um die erworbenen Fünfziger zu investieren. Im Zurückgehen in die Zweite Klasse sah ich ihn kurz an, er war wieder in seine Papieren vertieft.
Auf meinem Platz angekommen, ärgerte ich mich, ihn nicht zu dem Gespräch mit Nils Bohr 1941 in Kopenhagen gefragt zu haben, das immer wieder (so auch jetzt wegen der Veröffentlichungen von Briefe des dänischen Atomphysikers Nils Bohr an Heisenberg) in der Presse ist. Bohr hatte nach dem Krieg gesagt, Heisenberg und Weizsäcker hätten ihn 1941 zur Mitarbeit am deutschen Atombombenprojekt gewinnen wollen. Heisenberg und Weizsäcker sagten demgegenüber, dass sie Bohr nur mitteilen wollten, dass es keine deutsche Atombombe geben würde. Diese Information sei zur Weitergabe an die westlichen Alliierten bestimmt gewesen, da die beiden eine nukleare Attacke der West-Alliierten gegen Deutschland befürchteten. Wenn denen jedoch bekannt sei, dass die Deutschen keine Bombe bauten, so würden auch der Bau einer alliierten Bombe mit weniger Priorität verfolgt und der Krieg – so oder so – konventionell beendet werden können. Das Missverständnis der Physiker sei entstanden, da Heisenberg sich wegen eventueller deutscher Spitzel vage habe ausdrücken müssen.
Auch nach seiner Nichte und Namenspatin meiner damaligen Freundin hatte ich Carl-Friedrich von Weizsäcker nicht gefragt.
Ich sprach einen weißhaarigen Herrn an, der nahe dem Telefon Papiere studierend saß und erkannte, dass ich mit Carl-Friedrich von Weizsäcker redete, dem Bruder des damaligen Bundespräsidenten. Das elektrisierte mich aus dreierlei Gründen: Erstens war der ehemalige Atomphysiker und Friedensforscher von Weizsäcker ein recht bekannter Mann, zweitens hatte ich mich ein Jahr zuvor in einem Seminar mit den Anfängen des Atomzeitalters beschäftigt und darin auch mit der Frage, ob Werner Heisenberg (unter Assistenz Weizsäckers) im Zweiten Weltkrieg eine deutsche Atombombe hätte entwickeln wollen und drittens trug meine damalige Freundin einen seltenen Vornamen, der ihr im Andenken an eine Nichte der Weizsäcker-Brüder gegeben worden war, ihre Mutter war eine Freundin jener früh verstorbenen Nichte gewesen.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, wer im Rahmen der Tauschaktion (1 zu 2: eine DM gegen zwei Fünfziger) das Gespräch begann, fürchte jedoch, dass ich es war. Die Bundesregierung hatte gerade der DDR-Bevölkerung die D-Mark geschenkt, der DFB in Italien das Fußball-WM-Finale gewonnen und der Bruder meines Geldwechslers hatte dieses Spiel zum Anlass einer Fußball-Pilger-Reise nach Rom genommen und so dem nationalen Taumel zusätzlichen Schwung gegeben. Einige kritisierten Richard von Weizsäcker dafür. Ich auch.
Ich fragte also, wie er zum römischen Stadion-Auftritt seines jüngeren Bruders stünde. In der Sache ausweichend, mit angenehmer Stimme, aber überraschend offen erzählte mir der nette Herr, dass sein Bruder schon immer eine Vorliebe für Reden und öffentliche Auftritte gehabt hätte. Mit seinem Einverständnis setzte ich mich neben ihn. Er fuhr fort: Bereits in der Schule habe sein Bruder gerne die Aula mit seiner geschliffenen Sprache in den Bann gezogen. Gegen die wissenschaftliche und erfahrungsmäßige Übermacht seiner älteren Geschwister habe er gewissermaßen das rhetorische Schutzschild in die Hand genommen und bis heute behalten. Reden machten ihn beliebt. Während er das sagte, schimmerte ein bisschen des älteren Bruders Herablassung durch. Ich bemühte mich, deren Bemerken widerum mir nicht anmerken zu lassen, obwohl sie angesichts des hohen Alters, in dem sich die beiden befanden, ein wenig komisch wirkte.
Wie denn diese Rhetorik auf mich wirkte, fragte er nun seinerseits. Ich kritisierte ein wenig seine Auftritte, insbesondere den in Rom, aber auch, dass er bei der Vereinnahmung der DDR zuviel der Kohl-Regierung überlasse. Wir sprachen noch ein wenig über Wiedervereinigung Deutschlands, jedoch nichts, was mir heute noch erinnerlich ist. Dann zog ich mich zum Münzfernsprecher zurück, um die erworbenen Fünfziger zu investieren. Im Zurückgehen in die Zweite Klasse sah ich ihn kurz an, er war wieder in seine Papieren vertieft.
Auf meinem Platz angekommen, ärgerte ich mich, ihn nicht zu dem Gespräch mit Nils Bohr 1941 in Kopenhagen gefragt zu haben, das immer wieder (so auch jetzt wegen der Veröffentlichungen von Briefe des dänischen Atomphysikers Nils Bohr an Heisenberg) in der Presse ist. Bohr hatte nach dem Krieg gesagt, Heisenberg und Weizsäcker hätten ihn 1941 zur Mitarbeit am deutschen Atombombenprojekt gewinnen wollen. Heisenberg und Weizsäcker sagten demgegenüber, dass sie Bohr nur mitteilen wollten, dass es keine deutsche Atombombe geben würde. Diese Information sei zur Weitergabe an die westlichen Alliierten bestimmt gewesen, da die beiden eine nukleare Attacke der West-Alliierten gegen Deutschland befürchteten. Wenn denen jedoch bekannt sei, dass die Deutschen keine Bombe bauten, so würden auch der Bau einer alliierten Bombe mit weniger Priorität verfolgt und der Krieg – so oder so – konventionell beendet werden können. Das Missverständnis der Physiker sei entstanden, da Heisenberg sich wegen eventueller deutscher Spitzel vage habe ausdrücken müssen.
Auch nach seiner Nichte und Namenspatin meiner damaligen Freundin hatte ich Carl-Friedrich von Weizsäcker nicht gefragt.