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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Charles, Ray



fraktal
09.02.2002, 21:06
Ein Flughafen in den USA, Frühsommer 1988, morgens 7 Uhr. Las Vegas.
Die Reihen von Plastikstühlen sind leer, denn gerade hat eine Flugzeugladung Menschen eingecheckt.
Doch in der ersten Reihe Plastikstühle sitzt ein Mann. Ein älterer Afroamerikaner der 55 sein könnte, oder 77. Kurze graue Kraushaare, ein guter Anzug, eine tiefschwarze Sonnebrille, wenig Gepäck. Er hat den Kopf gesenkt. Vor ihm in der Hocke ein jüngerer dunkelhäutiger Mann, der dem Betrachter den Rücken zukehrt und dem Sitzenden den Kopf zuwendet. Sprechen sie? Leise? Zu hören ist nichts. Die Bewegungen deuten es an.
Sie wirken versunken, wie in einem symbiotischen Ritual begriffen. Wenn sie reden, worüber reden sie? Das Wetter? Baseballergebnisse? Geschäftliches? Termine? Es wirkt eher, als lege der Jüngere eine Beichte ab vor dem blinden Älteren - denn das ist der Ältere: Blind.
Weder ein Blindenstock noch eine gelbe Drei-Punkt-Binde machen das kenntlich. Die braucht der alte Jazzmusiker nicht: Sein Gesicht genügt als Ausweis. Es ist Ray Charles.

Soll ich näher treten? Will ich dieses Ritual stören? Kann ich?
Was eigentlich will ich? Ray Charles um ein Autogramm bitten? Wozu? Das wäre peinlich. Ihm sagen, dass er gute Musik macht? Das weiß er. Ihm sagen, dass mir seine Musik gefällt? Was interessiert ihn das?
Und wie würde das wirken? Ich trage meine damals schulterlangen Haare im Pferdeschwanz, der hinten aus einer Minnesota-Twins-Mütze ragt. Meine Jeans sind über den Knien abgeschnitten, ausgefranst und mit Marker bemalt. CBET und MNP steht da auf russisch. In meinen Kleidern hängt noch der rote Staub von einem windigen Ausflug ins Monument Valley. Die Nacht davor hatte mit drei anderen in Cesars Palace durchgemacht, indem ich 20 Dollar zuerst in Quaters und dann -wechselnd zu billigeren Etablissements- in Pennies in Slotmaschinen versenkt habe. Die drei Schwaben, mit denn ich erst seit zwei Tagen zusammen reise, haben den früheren Flug nach LA bekommen. Ich nehme den 7 Uhr 30 und fliege dann sowieso nach Portland weiter.
Ich sehe wahrscheinlich aus wie ein Penner oder Junkie, den nur die Flughafensicherheit übersehen hat.
Starre ich schon zu lange hin? Brennt mein Blick auf den Rücken des beichtenden Assistenten-Bodyguards? Muss nicht sogar Ray Charles merken, dass da einer glotzt?
Was will ich wirklich?
Mir diese Szene einprägen:
Zwei Männer, nahe beieinander und unberührt von allem, was sie umgibt, morgens, am Flughafen.

Verboten Wolf
09.02.2002, 21:08
Aber er hätte doch gar nicht sehen können, dass du schlecht angezogen warst ...

fraktal
09.02.2002, 21:20
Der Assistent dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sehend gewesen sein.

Dr. Jekyll
09.02.2002, 21:23
Tja, manchmal ist es eine Gnade, blind zu sein. (bezog sich auf Verboten Wolfs Replik)

Ich habe allerdings den Eindruck, dass Verboten Wolf auch nicht besonders scharf hingeguckt hat, als sie binnen zweier Minuten den Text gelesen und fraktal blitzentjungfert hat.
Wenn das mal keine Auswirkungen auf Fraktals späteres Liebesleben hat, weia.

Mir gefällt die Erzählung.

Herr Cohn
09.02.2002, 23:32
Mir auch. Sehr. Das ist ein schöner und stiller Moment.

Tiffany Nudeldorf MD
09.02.2002, 23:56
Blinde Showgrößen kokettieren gern mit ihrer Blindheit (vgl. Ray Charles' Szene im Blues Brothers Film): Sie hätten also auf eine Annäherung nebst Entschuldigung für Ihren Aufzug eine geistreiche Antwort erwarten können. Vielleicht wäre auf diese Weise auch mehr Ray Charles und weniger distanzierte Autobiographie in Ihre Geschichte gelangt; Ihre Selbstkritik ehrt Sie gewiß, nur das gewollte Ende stört ein wenig. Was erleben Sie denn für gewöhnlich so, daß Sie beinahe einen Knoten im Pferdeschwanz brauchen, um sich eine Begegnung mit Ray Charles einzuprägen ?

Genaugenommen ist das vielversprechend, seien Sie jedenfalls herzlich willkommen...

...wie ein Penner oder Junkie, den nur die Flughafensicherheit übersehen hat.

fraktal
10.02.2002, 00:22
Liebe Nudel,

dass Sie den Unterschied zwischen einem Pferdeschwanz und einer Filmkomödie kennen, wundert mich.

Der Unterschied zwischen Respekt und Anlabern hingegen, scheint Ihnen so komplett verborgen geblieben zu sein, dass Sie offenbar wirklich nicht verstehen wollten, warum ich Herrn Ray Charles nicht angesprochen habe.

Ich werde Sie in mein Nachtgebet einschließen.

seven
10.02.2002, 04:14
Schöne Geschichte, vielen Dank. Sollte Ray Charles nicht überhaupt und überall viel öfter erwähnt werden? Die Welt wäre darum nicht schlechter...
Das 'Kokettieren' mit der Blindheit - ach Gott, was soll der Mann denn machen? Andere Promis kokettieren mit ihren körperlichen Besonderheiten und können noch nicht mal singen.
Ich teile 'Nudels' Auffassung, dass Sie mit der Schilderung des eigenen Outfits mehr Aufwand treiben als damit, Ray Charles zu beschreiben, was mich mit Verlaub doch mehr interessiert hätte als Ihr Pferdeschwanz. Was für Schuhe hatte der Mann an? Krawatte? Hat er geraucht? Das sind die Dinge, die ein Ray Charles Fan wissen will.

fraktal
10.02.2002, 11:38
Ich hoffe dies macht Fans wirklich wirklich glücklich:

Geraucht hat er nicht, denn es war ein amerikanischer Flughafen. Zudem hätte er dem Gegenüber den Rauch direkt ins nahe Gesicht blasen müssen. Daran hätte ich mich erinnert.

Wenn ich mich recht entsinne waren beide Männer in schwarze Anzüge gekleidet und unbehütet. (Die dunklen Anzüge trugen sicher zum Eindruck des Rituals und der Distanz bei, deshalb sollten sie wohl noch in den Text. Ich danke für diese Anregung.)

Aber: Sie werden verzeihen, dass nach 14 Jahren mein Gedächtnis hier etwas lückenhaft ist.

Ich bin damals (im Anschluss an ein Auslandssemester und im Vorspann zu einem Job dort) sechs Wochen kreuz und quer durch die USA gefahren und geflogen, habe täglich neue Leute getroffen und war täglich vielen neuen Eindrücken ausgesetzt. Aufzeichnungen - das ärgert mich heute in der Tat - habe ich nur sehr lückenhaft und oberflächlich gemacht.

Wesentlicher ist:
Genau die Details warem mir damals unwichtig. Deshalb erinnere ich sie wohl auch nicht mehr.
Mich hatte die Intimität dieser Szene beeindruckt, die, neben meinem Äußeren und einem Mangel an wirklich Mitteilenswertem, der Hauptgrund dafür war, dass ich nicht stören wollte und konnte. Diesen Eindruck war es mein Ziel zu transportieren.

Die obige Schilderung meines eigenen Äußeren dient lediglich der Betonung meiner 'Abgegrenztheit' von den beinen Männern. (Die extreme Müdigkeit wird ihr übrigens getan haben. Heute kommt mir die Szene sehr 'traumartig' vor.)

Ich mag ja auch den Sinn dieser Sammlung bzw. dieses Forums missverstehen. Wenn ich recht sehe, dann geht es genau um die Kombination aus Nicht-Aufdringlichkeit mit einer nicht-fanhaften Sehweise prominenter Menschen und einer auf diesem 'unkonventionellen' Weg gewonnen Einsicht in deren Persönlichkeit. (Manche Begegenung, dei ich hier las, schien mir mehr vom Erzähler zu sagen als vom Prominenten.)

Ich war kein detailgeiler Fan und verstand meinen Text auch nicht als Befriedigungsversuch eines voyeuristischen Interesses.

paule9999
10.02.2002, 12:29
Quote:
Soll ich näher treten? Will ich dieses Ritual stören? Kann ich?
Was eigentlich will ich? Ray Charles um ein Autogramm bitten? Wozu? Das wäre peinlich. Ihm sagen, dass er gute Musik macht? Das weiß er. Ihm sagen, dass mir seine Musik gefällt? Was interessiert ihn das?


Das hat mir richtig gut gefallen, ich glaube solche Fragen sollten sich Menschen häufiger stellen, wenn sie einen Prominenten entdecken. Ich finde Autogrammjäger und Fotofritzen peinlich.

Ich hab mich beim Lesen dieser Geschichte erinnert, wie ich Ende der 70er mal in einer Tauberbischofheimer Kneipe saß. Es öffnete sich die Tür und ein Fremder kam herein. Es ergab sich eine Unterhaltung. Klaus als Tauberbischofsheimer war mächtig stolz auf die Fechter und darauf, dass Alexander Pusch auch hin und wieder in sein Lokal kam. Brühwarm tischte er dies dem Fremden auf. Wollte er angeben ? Was soll das überhaupt?
Die Reaktion des Fremden fand ich genial, er zuckte nur mit den Axeln:"Na und" antwortete er, "ich hab mit Ray Charles schon mal in einem VW-Käfer gesessen!"

Irgendwie kam ich mir vor wie in einem Wartezimmer beim Arzt, in dem die Patienten streiten wer wohl der "Kränkere" ist !