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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Houellebecq, Michel (kichert haltlos)



Herr Cohn
07.02.2002, 19:43
Gestern Abend, 6. Februar, in einem großen knallvollen Saal, alle Ohren spitzen sich auf den spitzen Mund von Michel Houellebecq, der sich plötzlich unterbricht, er fällt voll konsterniert aus der Rolle und - -

- ich weiß, diese Paparazzogeschichte erfüllt kein reguläres Statut, weil es keine zufällige Begegnung war usw, die Handlung spielt während einer öffentlichen Lesung und die eherne lex papporum - aber egal. Houellebecqs Erstaunen ist ein zu schönes und der Leser sollte seinem formalistischen kleinen Mann im Ohr jetzt abwinken.

Also. Die Handlung beginnt schon früher, ich muss etwas ausholen. Darf ja jetzt. Im lauten Menschenlärm saß ich auf einem drückenden Klappstuhl in der ersten Reihe und zwei Sitze weiter thronte ein gepflegter Mann, blaubehemdet, ein bisschen aufgequollen doch höflich. Ich mochte ihn nicht so, denn er saß mir im Weg, weit hinter ihm lag der Saaleingang mit seinem Menschengequell und ich hielt dort Ausschau nach Bettinescu Bucuresti, der Papparazza, las Houellebecqs Gedichte, roch am Parfum des gepflegten Mannes und hielt wieder Ausschau. Da leuchtete die Ausgeschaute im Eingang, alles war gut. Der Mann war übrigens Joachim Lottmann, ich erkannte später sein teutonisches Profil.

Michel Houellebecq nahte dem Podium, bescheiden und langsam, im Saal verstummte der Lärm. Er las vor, leise und mit sich spitzendem Mund, zwischendurch rauchte er so wie ich es noch nie gesehen habe - er hielt die Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger seiner gaaanz minimalistisch bewegten Rechten, diese neben seinem Ohr, den Ellbogen aufgestützt, und er zog am Stengel indem er seinen rechten Mundwinkel lefzenartig nach oben schob und das Mundstück an den Eckzahn dranhielt. Einfach, aber bizarr. Dann wurde wieder vorgelesen und es war die Rede von - öh - von einer hart behaarten Möse, die sich im Seifenschaum an der Wade des Romanhelden reibt, der auch Michel heißt. Auch saß dieser Michel im Flugzeug Richtung Thailand, ärgerte sich langzeitig über alles und zum Schluss, als man über Afghanistan flog, rief er in Gedanken runter "gute Nacht ihr Talibane!"

Eine Minute später rissen die Worte aus Houellebecqs Mund plötzlich ab. Im Hochschauen war ihm etwas passiert, er machte noch eine Handbewegung, starrte dann einfach, schließlich krümmte er sich und kicherte los. Verhalten ratlose Heiterkeit im Saal. Houellebecq sagte schließlich ins Mikrophon "Ah voyez-vous, j'ai simplement vu quelquechose de bizarre, pardonnez-moi..." (ah wissen Sie, ich hab gerade einfach was Komisches gesehen, Verzeihung) und keckerte in sich hinein. Er starrte: Auf die Frau neben mir! Auf Bettinescu Bucuresti! Kann ich verstehen. Aber was focht den großen Autor an? Er kicherte "...born in Kabul..." und das war des Rätsels Lösung. Auf Frau Bucuresti stand nämlich groß der Schriftzug 'born in Kabul'. (Hatte ich gar nicht richtig gesehen, weil ich Damen nicht mitten aufs Hemd zu starren pflege.) Herr Houellebecq freute sich. Ein menschlicher Zug von ihm!

honz
07.02.2002, 20:02
Wieso Cohn, ist doch Klasse, du solltest den Hausmeister einfach dazu bewegen, den Strang in Lottmann, Joachim umzubennen, dann wäre das zufällig und nicht berufsbedingt, also regelkonform.

Der Auftritt von der Bucuresti ist natürlich GROSS, ich hatte nichts anderes erwartet, ihr Timing ist perfekt.

mi
07.02.2002, 22:41
Hab ich mir doch gleich gedacht, dass der nicht über sein Buch lacht. Ich bin jetzt bei Elemtarteilchen auf Seite zehn und mir ist schon dreimal das Gesicht eingeschlafen.
Und das am hellichten Tag!

Bartholmy
07.02.2002, 23:44
Sehr schöne Geschichte.

Von H. kenne ich nur die ausgeweitete Kampfzone, und das war meist eine öde Qual, den Dreck zu lesen.

Aber vielleicht darf ich irgendwann zum Ausgleich auch einmal Frau Bucurestis T-Shirts lesen.

rron
07.02.2002, 23:48
Habt Ihr auch zusammen mit Lottmann gesungen?

Das ist Waaaahnsinn, warum liest heut wieder der Houelle?

DerCaptain
08.02.2002, 00:27
Also, bei aller Zurückhaltung, tolltolltoll.

Lotte, Betti und Holle in einer Geschichte. Von Cohn.

Hähä.

Doch, gefällt mir.

Herr Cohn
08.02.2002, 02:44
Wie schön, so Viele freuen sich! Herzlichen Dank! Eigentlich wurde ja Frau Bucuresti papparazzt, aber 'Houelle' ließ sich zum hiesigen Posten nicht überreden. Rron, Herr Lottmann sah so lymphatisch aus und wirkte so, als wäre er jüngst auch in Thailand gewesen. Dann singt man nicht so gern mit ihm!

Klaus Caesar
08.02.2002, 03:04
Was ich Herrn Houllebecq voraus habe: Ich habe schon mal zusammen mit Frau Bucuresti gepostet. Frau Bucurestis Computer steht auf dem Fußboden vor ihrem Sofa. Man muß da immer runtergucken. Der Bildschirm ist so klein, daß man gar nicht alles draufkriegt vom Forums-Layout. Man muß ständig nicht nur von oben nach unten, sondern auch von links nach rechts scrollen. Das ist vielleicht ein Gescrolle die ganze Zeit! Und dann mit der Tastatur auf dem Schoß auf dem Sofa. Aber das Beste ist das Mitdermausrumklicken. Weil es natürlich kein Mousepad gibt auf dem Sofa. Also benutzt Frau Bucuresti meinen Oberschenkel als Mousepad (ihrer ist ja mit der Tastatur besetzt). Und umgekehrt, wenn ich scrolle, dann scrolle ich über Frau Bucurestis Oberschenkel. Das ist ein bißchen erotisch. Wenn es eine Skala gibt von null Punkten (überhaupt nicht erotisch) bis hundert Punkte (total erotisch), dann hat das Herumscrollen auf dem bucurestischen Oberschenkel so, naja, sagen wir mal, vier Punkte. Oder eigentlich eher drei.

DREA
08.02.2002, 04:52
a) B. Bucuresti ist ab sofort eine meiner Heldinnen!
b) Klaus Caesar koennte noch ein bisschen in die Charme-Schule
c) Cohn finde ich manchmal richtig gut.

Juri
08.02.2002, 05:02
kreuzt alle drei möglichen Antworten an

DonDahlmann
08.02.2002, 12:04
Ich bin begeistert, Herr Cohn. Sowas ist wirklich gross. Was mich wundert: hat Houllebeque nach der Lesung nicht Bucuresti angesprochen, so ganz klassisch, wie : "Madame, ihr T-Shirt ist eine Wucht, wollen sie noch einen Rotwein mit mir trinken, ich lesen ihnen dann auch gerne was aus meinem Buch vor", oder so?

Mr. Knister
08.02.2002, 12:32
Ich bin auch begeistert, Herr Cohn. Und dankbar. Ja, dankbar auch. Tun Sie uns allen einen Gefallen: Besuchen Sie ganz viele solcher Lesungen mit Skandalator(inn)en - und berichten Sie davon.

Pretextat Tach
08.02.2002, 12:48
Herr Lottmann, für den Fall, dass Sie das hier einmal lesen sollten: Sie sind, wie hier (www.joachimlottmann.de) zu sehen, mit ihren Domaingebühren im Rückstand. Das sieht ein bisschen komisch aus.

DerCaptain
08.02.2002, 12:50
Der Brüller!

Pretextat, you made my day!

DonDahlmann
08.02.2002, 13:16
Das ist doch nur wieder einer seiner perfiden Scherze.

Kirk Erbs
08.02.2002, 13:23
@Don: Houellebecq ist bei sowas nicht klassisch, sondern einfach gnadenlos direkt. Laut FAZ vom 7.2. passierte bei Houellebecqs Auftaktlesung in Köln nämlich folgendes:

"Er schlurft voran, den Kopf gebeugt, die Schultern schwer. Er hebt den Kopf und strahlt. Er hat eine junge Frau, eine sehr schöne Frau in der Menge entdeckt, läuft auf sie zu, nimmt ihren Kopf zwischen die Hände, küßt sie, schaut ihr tief in die Augen und läßt den Kopf gar nicht mehr los. Eine etwas peinliche Situation für die schöne Frau, alle schauen auf das Sekunden-Liebespaar, bis der Dichter sie freigibt und strahlend allein weiter Richtung Bühne strebt."

Wie nennt man denn sowas? Eine Unbekannte wird von einem Promi auf eine Weise paparazzt, deren Höflichkeit höchst zweifelhaft ist.

Auf jeden Fall möchte ich diese Geschichte aus Sicht der Frau geschildert bekommen. Schöne junge, unbekannte Frau: Wenn Sie dies lesen, schreiben Sie doch bitte umgehend ihr Erlebnis mit Houellebecq hier herein! Wir brennen darauf, zu erfahren, wie Houellebecq küßt!

Lenin
08.02.2002, 20:39
Ich ekel mich sogar ein bisschen, zu erfahren, wie Wellback küsst.




___________________
Schmatzi-schmatzi, Schatzi!

chuck
09.02.2002, 00:06
Jetzt hast Du die Geschichte ja doch selbst erzählt, und zwar sehr schön; richtig so - aus der Feder der Hemdenspruchträgerin selbst wäre sie ja kaum charmant hinzukriegen. Ich frag jetzt mal meine Freundin, ob sie stimmt.

Herr Cohn
09.02.2002, 00:57
@Don, nach der Lesung, beim Buchsignieren, hat Herr Houellebeqc zwar enthusiastisch auf Frau Bucuresti geguckt, aber von Rotwein war nicht die Rede. So aus der Nähe betrachtet sah er eher nach Cognac aus, und zwar nach viel.

Kirk Erbs, man kann doch froh sein, dass der Pegel erst in Köln so hoch war und am Vortag in Hamburg noch leicht darunter. Denn so wurde wenigstens eine Unbekannte von der Lefze beschmatzt, niemand, den man kennt! Ist etwas weniger schlimm so.

Chuck, die Hemdspruchträgerin könnte die Geschichte SEHR charmant erzählen, glaub mir! Aber ich konnte mich nicht zurückhalten, und sie ist jetzt ohnehin auf Reisen. Sowas muss brühwarm gepostet werden.

paule9999
09.02.2002, 10:20
Schön beschrieben wie er raucht.

http://www.cyberlycee.lu/webspace/ippolito/houellebecq.jpg

chuck
09.02.2002, 11:28
Lieber Cohn, ich wollte natürlich weder den Charme noch die erzählerischen Fähigkeiten von Bettinescu in Frage stellen, ich dachte bloß, sowas schildert sich vielleicht geschmeidiger aus der Sicht eines Dritten.

Aporie
09.02.2002, 17:48
Ich bin zwar der Meinung, dass Houllebecque weder öffentlich rauchen, küssen noch aus seinen Büchern lesen sollte.
Interessieren würde mich gleichwohl, ob ich tatsächlich der einzige Pappe bin, der ihn für einen der wichtigsten Autoren der neunziger Jahre hält.

Klaus Caesar
09.02.2002, 18:02
Gut möglich.

Lenin
09.02.2002, 18:05
Fast nicht unmöglich.




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oder doch?

Aporie
10.02.2002, 14:47
Wundern tät's mich auch nicht Ich scheine hier nämlich auch allein mit der Meinung zu sein, dass unter den lebenden amerikanischen Autoren, die es zu einiger Berühmtheit gebracht haben, John Updike der beste und David Sedaris der schlechteste ist.

Herr Cohn
10.02.2002, 18:09
Houellebecq schreibt wirklich nicht schlecht, seine Gedichte sind sehr klar und klassisch, nur das was drin steht ist mulmig, z.B.:

Après-Midi (1996) Nachmittag

Les gestes ébauchés se terminent en souffrance
Et au bout de cent pas on aimerait rentrer
Pour se vautrer dans son mal d'être et se coucher,
Car le corps de douleur fait peser sa présence.

Dehors il fait très chaud et le ciel est splendide,
La vie fait tournoyer le corps des jeunes gens
Que la nature appelle aux fêtes du printemps
Vous êtes seul, hanté par l'image du vide,

Et vous sentez peser votre chair solitaire
Et vous ne croyez plus à la vie sur la Terre
Votre coeur fatigué palpite avec effort

Pour repousser le sang dans vos membres trop lourds,
Vous avez oublié comment on fait l'amour,
La nuit tombe sur vous comme un arrêt de mort.



Übersetzt so:

Die Gesten, skizziert, enden im Leid
und nach 100 Metern möchte man umdrehen
sich im Seins-Leiden wälzen und schlafen gehen,
weil der Schmerz-Körper schwer wird vor Anwesenheit.

Draußen ist es sehr heiß und der Himmel voll Gold,
das Leben wirbelt den Körper, der jungen Leute,
die Natur ruft ihn zum Frühlingsfest, heute,
Sie sind allein, vom Bild der Leere verfolgt,

Und Sie fühlen Ihr einsames Fleisch wie ein Klumpen
und Sie glauben nicht mehr ans Leben auf Erden, indessen
flattert Ihr Herz mühsam mit ermattetem Ton

Um Blut in Ihre schweren Glieder zu pumpen,
Sie haben von Liebe alles vergessen,
die Nacht sinkt auf Sie wie eine Todesstation.

Lenin
10.02.2002, 19:06
Wer sowas schreibt, sollte wirklich einfach mal konsequent sein, unter sein bisheriges Leben einen dicken Strich ziehen, und was ganz anderes machen. Popstar werden zum Beispiel. Wie Wellback zum Beispiel. Ist das Deine Übersetzung, Herr Cohn?



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"Vous avez oublié comment on fait l'amour" heißt m.E. eher:
Sie haben vergessen, wie man Liebe macht.
Oder geschah es um des Reimes willen? (Lenin, 2 Jahre Schulfranzösisch)

Lenin
10.02.2002, 19:09
Autsch, jetzt sehe ich erst: da ist ja der Endreim erhalten! Sorry!

Aporie
10.02.2002, 19:22
caradiert weil

Wie Lenin Vorposting zu rasch gelesen und mir einen falschen Reim darauf gemacht.

Lenin
10.02.2002, 19:27
Aporie, Sie verstehen mich miss! Meine anfängliche Kritik an ungenauer Übersetzung habe ich mit dem zweiten Posting zurückgezogen, da mir beim schnellen Überflug das Cohnsche Bemühen nach Erhalt des Endreims zu Lasten der in diesem Fall lässlichen Übersetzungsgenauigkeit entgangen war.



__________________
So hat Schiller das ja auch gemacht!

Aporie
10.02.2002, 19:29
Das ging mir eben auf.

Herr Cohn
10.02.2002, 23:42
Stimmt, Lenin, das mit "faire l'amour" hab ich lässlich übersetzt. Nicht nur wegen des Reims, auf deutsch hat man kein so alltäglich nettes Wort dafür, "Liebe machen" ist 70er Jahre, schlecht - Herr Lottmann müsste da sicher auch erst überlegen.

Klaus Caesar
11.02.2002, 00:00
Ein Sonett in dieser Geschmacksrichtung würde ich zur Not auch noch zusammenkriegen (zumindest auf deutsch). Aber nur, wenn Aporie dann auch mich zu den wichtigsten Autoren der neunziger Jahre zählt.

Aporie
11.02.2002, 00:45
Dann sonettier doch mal Caesar, die Trophäen kommen erst, wenn was zum Ausstopfen da ist.

Herr Cohn
11.02.2002, 01:07
Das beste Sonett überhaupt schrub Herr Genista über einen explodierten Bräter (http://www.alles-bonanza.net/forum/showthread.php?s=&threadid=12871)! Trotz Katastrophe ist da drin rein gar nichts von Lebensüberdruss oder mal d'être.

Lenin
11.02.2002, 02:59
"schrub" ist aber ein copyrighht von Juri, oder?!?



____________________
"schrub" ist aber ein copyrighht von Juri, oder?!?

Angelika Maisch
11.02.2002, 03:12
Wenn schon Copyright, Lenin, dann vermute ich mal, es steht Oha zu. Aber sicher bin ich mir natürlich nicht.

Lenin
11.02.2002, 03:17
Wer ist sich schon bei irgendwas sicher, heute, jetzt, hier!!

Klaus Caesar
12.02.2002, 00:55
Aporie, ich habe erst jetzt wieder in diesen Strang geguckt, also, die Zeit läuft ab jetzt, ja? Bis, sagen wir, morgen. Topf, die Watte quillt.

henrik
12.02.2002, 01:23
Sonette sind was für studenten. Ich schaff nur noch einen limerick.

Es las mal ein Raucher aus Frankreich,
Literarisch entrückt und sehr bleich,

Erblickt den kabulischen Busen,
Wollt nur noch schmusen

Und wurde ganz menschlich sogleich.



gute nacht und herzlichst, henrik

Klaus Caesar
12.02.2002, 01:40
Ob ich das toppen kann? Oje, was hab ich mir da schon wieder aufgeladen.

Herr Cohn
12.02.2002, 02:03
Es las mal ein Belgier im Geiste
ziemlich viel Text der nicht gleißte.

Plötzlich sah er verklemmt:
Bess'ren Text auf 'nem Hemd!

So dacht' er sich: Schlecht gemacht, weißte.

Klaus Caesar
12.02.2002, 02:17
Ruhe! Ich muß mich konzentrieren!

Herr Cohn
12.02.2002, 02:58
flüstert

Ein lesender Autor in Hamburg
als Thailänderficker bekannt wurd'.

Da konnt er uns zeigen,
dass er Kabul kann leiden,

und dass er noch nicht ganz entmannt wurd'.

Klaus Caesar
12.02.2002, 05:12
Hambourg, le 6e février 2002

Hast, Fremde, gleich mir jenen Ort nicht erwählt,
Obgleich er uns vorfand, als sei er erdacht,
Um noch in gleicher, in grauschwerer Nacht
Einer Seele zu nehmen, was lang sie gequält.

Laß uns, Schöne, versöhnen, was Gegensatz scheint:
Liebe und Welt, Blut und Geist, Traum und Wort.
Es lebt ein Verlangen, das schwelt immerfort,
Bis unsere Körper im Gleichklang vereint.

Erblickst du danach, schon im Halbschlaf, das Licht,
Chromatisch gestreut, wie ein Prisma es bricht,
Quellend aus Sternstaub und Mondessichel -

Kabul-Paris. Nur ein Wimpernschlag weit.
Chöre erschallen: „Herr, es ist Zeit,
Zeit zu schweigen." - Jaja, bin schon still. Dein Michel.

Herr Cohn
12.02.2002, 18:11
Es war mal ein Caesar aus Bremen,
verstand vom Sonett mehr als 'nen Schemen,

so baute er Nachts eins,
bei dem man sich lacht eins,

denn den Michel'n wird sie nicht nehmen.

Aporie
13.02.2002, 19:43
Nun, Caesar, ehrlich gesagt tönt das wie ein Remix aus der Lyrik der deutschen Romantik, mit ein paar bitter schmeckenden Korinthen versetzt.

Klaus Caesar
13.02.2002, 21:30
Kann man so sehen bzw. hören, Aporie. Aber wie tönt denn ehrlich gesagt das Houellebecq-Sonett (ich meine das französische Original, nicht die Cohnsche Übertragung)? Ist das etwa der adäquate Sound zur Jahrtausendwende? Im Lääbe ned!

Aporie
14.02.2002, 12:46
Da bin ich mit Ihnen einig, Caesar. Liegt wohl auch daran, dass das Sonett als Form veraltet ist. H. hat bessere Gedichte gemacht, aber die interessieren eh weniger als seine Prosa. Mit seinen öffentlichen Hanswurstiaden trägt er allerdings selbst gehörig dazu bei, dass man ihn in erster Linie unter dem Gesichtspunkt seiner political incorrectness wahrnimmt.

Die Anfangsbuchstaben Ihrer Verszeilen senkrecht nach unten lesend, stelle ich fest, dass Sie beim Verfassen ohnehin eher Kunstfertigkeit als fertige Kunst im Sinne hatten.

Klaus Caesar
14.02.2002, 19:44
Prima, Aporie, wir sind uns in der Tat einig. Allerdings hätte ich mir die Reimerei sparen können, wenn wir uns auf dem Prosawege darüber verständigt hätten, daß Sonette sowas von beschissen sind. Schließlich hab ich nur behauptet, daß ich "ein Sonett in dieser Geschmacksrichtung zur Not auch noch zusammenkriegen" würde - und nicht, daß dabei große, zeitgemäße Dichtkunst herauskäme. Es freut mich, daß Sie das Akrostichon (denn so nennt man das auf schlau) bemerkt haben, so war also auch diese kleine Spielerei nicht ganz umsonst.

Bleibt also die Frage: Ist H. einer der bedeutendsten Autoren der neunziger Jahre? Dazu sage ich ganz entschieden: Keine Ahnung. Ich kenne von ihm nur anderthalb Seiten aus "Elementarteilchen", dann eine Sexgeschichte, die uns mal einer im "Peinliche Sexerlebnisse"-Strang als selbsterlebt verkaufen wollte, und dieses Sonett hier. Sowie die öffentlichen Hanswurstiaden natürlich. Ohne die er schätzungsweise nicht ein Fünftel so berühmt wäre. Oder glauben Sie wirklich, seine literarische Qualität macht's? Ich will Ihnen nicht dreinreden, wie gesagt, ich kenne seine Schriften nicht. Nicht die ärgern mich, sondern sein Status. Ganz profaner Literatenneid also.

Aporie
15.02.2002, 13:51
Für das Akrostichon bekam ich einen Tipp, hab's also nicht selbst entdeckt.
Ein Tipp zu Houellebecq: Lesen Sie "Ausweitung der Kampfzone". Seine literarische Qualität in diesem Forum zu begründen, scheint mir heikel.Aber vielleicht werde ich es gelegentlich trotzdem tun.

Klaus Caesar
15.02.2002, 13:57
"Ausweitung der Kampfzone". Gut, ist notiert. Ich werd's zu lesen versuchen.

Herr Cohn
17.02.2002, 15:56
Wie findest du es, Klaus Caesar? Ich lese es auch gerade und denke mit Aporie 'heikel', denn Houellebecq versucht Einem so kalt einzureden, alles im Leben sei vollkommen flach und sinnlos, dann wird er auf einmal doch anrührend und zerschlägt es einen Satz später wieder. Gut geschrieben, ja, aber abgefucked, zuviel mindfucking, hoffnungslos selbstverliebt in die ewige Krise, die per se nichts Anderes werden kann & darf - scheint mir so.

Bettinescu Bucuresti
18.02.2002, 19:32
Ich wollte die Geschichte natürlich gerne selber posten. Leider kam die Berlinale dazwischen. Cohn, da nichts von mir kam, hast du das übernommen. Hat mir gut gefallen. Nichts desto trotz will ich hier nun meine Version dierser Geschichte präsentieren:

Immer wieder spielte mir das Schicksal den Namen dieses französischen Autors zu; eine hitzige Debatte im Autoradio, ein schwärmerisches Gespräch im Speisewagen des ICE, in der Firma erzählte mir mein Produzent, daß dieser Wellbeck ihm seinen Urlaub ruiniert habe, Pärchen getrennt, seine Freundin in eine tiefe Krise gestoßen. Sogar diejeigen schienen ihn zu kennen, die noch nie zuvor ein Buch gelesen hatten, und die begannen plötzlich literarisch zu fachsimpeln. Nur ich kannte einfach gar nichts von Houellbecq und fragte mich: Warum das alles.

Da rief mich Cohn an, ob ich nicht mit ihm auf die Houellebecq Lesung gehen wolle. Gut, dachte ich, bevor du dich durch die ganzen Bücher quälst, hörst du dir das erstmal an. Cohn stand schon eineinnhalb Stunden vor Beginn in der Schlange vor dem Hörsaal A der Uni und ich kam schweißgebadet vor Eile trotzdem viel zu spät, was nicht schlimm war, weil der Houellebeck kam noch später und ich fragte mich schon, ob er der Fußgänger gewesen sei, den ich fast überfahren hatte.
Cohn hatte tatsächlich Plätze in der zweiten Reihe ergattert und begrüßte mich mit den Worten: "Von hier können wir noch seine Hosenfalten sehen". Das sollte sich später als äußerst nachteilig erweisen. Ich kaufte mir das billigste Buch, um es signieren lassen zu können: "Ausweitung der Kampfzone" als Paperback. Dann kam dieser irre Schriftsteller, der, wenn er nicht schreiben würde, bestimmt ein Serienmörder geworden wäre. So hat er zumindest den Beruf mit den besseren Job-Chancen und dem höheren Gehalt gewählt.
Während Michel (sehr schön von Cohn beschrieben) seine langen sexuellen Ausführungen über Schaum, rasierte Mösen und sexuelle Hingabe thailändischer Prostituierte vorliest, lauscht die intellektuelle Elite im Hörsaal so gespannt, als handele es sich um neue Erkenntnisse in Fragen der Weltraumforschung. Bekannt als Islamistenfeind liest Hoeullebeq dann sehr genüßlich so etwas wie: "Wir flogen über Afghanistan, wo sich die Talibane in ihrem eigenen Dreck suhlen. Sollen sie doch! Ätsch, ihr blöden Talibane, suhlt euch in eurem Dreck! ICH fliege nach Thailand und ficke mich sauber, mit leckeren Mösen in viel Seifenschaum."

Entgeistert starre ich ihn an und unsere Blicke kreuzen sich ab und zu. Schließlich betrachtet er mich länger und hier setzt, (ebensfalls sehr gut beschreiben von Cohn) eine Houellbecksche Starre ein: Da sitzt eine Kabulanerin im Publikum. Er liest, und ich spüre seinen Blick auf mir und meinem dunkelgrünen T-shirt, die weißen Buchstaben born in kabul .
Die Dolmetscherin übersetzt, was ich schon weiß: Houellebecq starrt auf meinen Busen, ich hätte ihn irritiert. Houellebecq, in Frankreich extrem angefeindet als Rassist, glaubt sich wohl entweder, jede Sekunde Ziel eines terroristischen Anschlags zu werden, oder es war (danke liebster henrik) der kabulische Busen unter dem T-Shirt, der ihn sich vergessen liess. Er unterbricht seine Lesung. Eine peinliche Schweigeminute entsteht, ich muß irgendetwas machen, denke ich und halte, betont locker und souverän, demonstrativ das T-Shirt raus (mit Busen) und rufe "Das war eine sehr interessante Schauspielhaus-Veranstaltung". Die Kamerateams schwenken auf mich. Ich werde wohl dunkelrot, weil es schon ein unangenehmes Gefühl ist, wenn ein gesamter Uni-Hörsaal so ganz unvorbereitet auf deine sekundären Geschlechtsorgane starrt. Houellbecq merkt, daß ich wohl keine Bombe im Busen trage und wendet sich nach einer Pause wieder seinem Text zu.

Als ich mich anstelle, um mir das Buch signieren zu lassen, führen Michel und ich unser erstes Gespräch. Es hätte ihm einen kurzen Schock versetzt, sagt Michel, seine Literatur mir auch, antworte ich. Ob es denn in Thailand auch Männer für mich gäbe, die ich kaufen könne, frage ich. Ja, sicher, sagt Michel. Aber meistens für Schwule. Ich solle lieber nach Frankreich kommen, da gäbe es mehr solcher Liebhaber. Ich weiß sofort: O.K., da geht was. Ich danke ihm für den Hinweis und beschliesse, das Angebot nicht anzunehmen.

Gestern saß ich mit henrik und Martin Wuttke in der Volksbühnen-Kantine. Martin Wuttke erzählte, daß er auf der Lesung in Köln den deutschen Text vorgetragen habe und vorher und hachher einige Stunden mit Houellebecq verbracht. Houellebecq muß schon vor der Lesung so dermaßen betrunken gewesen sein, daß er nur noch trokelnd seinen Platz einnehmen konnte. Das erklärt wohl auch, warum er auf diese Frau im Publikum zugelaufen ist. Er soll angeblich ab einem bestimmten Betrunkenheitsgrad jede Frau anmachen. Und dieser Betrunkenheitsgrad stellt sich wohl zweimal täglich ein.

Mr. Knister
19.02.2002, 10:40
...und deswegen läuft die intellektuelle Elite so gerne in seine Lesungen. Danke, B.B., für diese schöne Beschreibung - langsam wird mir da Einiges klar. Obgleich ich schon Einiges dazugelernt habe, bei der "Elementarteilchen"-Lektüre. Das muss ich schon zugeben.

DerCaptain
19.02.2002, 11:17
Es hätte ihm einen kurzen Schock versetzt, sagt Michel, seine Literatur mir auch, antworte ich.


HERR-LICH!

Aporie
19.02.2002, 13:51
Ich glaube, man könnte es jetzt lassen, Houellebecq an seinen Auftritten zu messen.
Knut Hamsun hat Hitler besucht, Nietzsche hat in der Öffentlichkeit weinend ein Pferd umarmt, Rainald Goetz hat sich während einer Lesung mit einem Messer die Stirn aufgeschlitzt, Norman Mailer hat wahllos geohrfeigt usw. Trotzdem beschäftigt man sich vor allem mit den Texten dieser Schriftsteller.

Oder interessiert auch an Houellebecqs Texten nur die political incorrectness gewisser Stellen?

Niklas Luhmann hat mal sinngemäß gesagt: "Es geht nicht darum, Anstand zu wahren, sondern zu Leuten, die den Anstand wahren wollen, Abstand zu wahren."
Das gilt vor allem für die Kunst.

Houellebecq wirkt verstörend. Aber doch nicht, weil er die Taliban, die auf die ganze Welt verstörend gewirkt haben, als Kamelficker beschreibt!

Dies ist hier kein Ort für Literaturkritik. Ich erlaube mir deshalb nur eine private Bemerkung zum Thema: Ich halte Houellebecq für einen der größten Humoristen unserer Zeit, weil er seinen Witz ähnlich wie Woody Allen aus den Tragödien des permanenten losers zieht und in einer vertrackten Rollenprosa die Sprache des Alltags, der Poesie und der Dialektik kunstvoll vermischt. Man sollte ihn lachend lesen.


"Wir alle wissen, dass Kunst nicht die Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können." [Pablo Picasso)

Ruebenkraut
19.02.2002, 15:08
Quote Aporie: "Dies ist hier kein Ort für Literaturkritik. Ich erlaube mir deshalb nur eine private Bemerkung zum Thema"

Will hier einer den Anstand wahren?

Aporie
19.02.2002, 16:08
Nein, ich will bloss nicht nerven.

Herr Cohn
19.02.2002, 16:34
Bettinescus Antwort war Klasse (das mit H.'s Literatur, die sie geschockt habe), jedoch - ich jedenfalls würde mich über Literaturkritik von Ihnen freuen, Aporie. Wo ist das Schockierende in Houellebecqs Sachen? Ich sehe da auch einfach nichts Woody-Allenhaftes. Eine nicht üble Idee, das lachend zu lesen, aber wie, er schreibt ja nicht mal gallig oder hintersinnig. Wie war das noch - in "Ausweitung..." steht ein Satz wie "...und ich machte daraus ein politisches Pamphlet von seltener Schärfe", aber dann kommt Pubertäres, und aus. Wenn H. überhaupt ein Proton mit Ironie geladen hat, dann finde ich sie vor lauter in-sich-Stecken nicht. Was meinen Sie, Aporie?

Aporie
19.02.2002, 18:09
Aber Herr Cohn! Sie haben doch das Ironische eben zitiert ("und ich machte daraus ein politisches Pamphlet von seltener Schärfe".) Natürlich kommt nachher keins, sonst wäre Ihr Beispiel nicht ironisch.
Ironie ist ja normalerweise nur in der Brechung, im Kontext zu erkennen. Bei Houellebecq kommt sie aber auch öfter knüppeldick. Lesen Sie doch nochmals die Tierfabeln in der "Kampfzone" oder diese beiden Gedichtzeilen:

«Je suis vraiment content d'avoir connu l'amour, / je me suis démoli pour une chose vivante.»

Herr Cohn
19.02.2002, 21:22
Hmmm - das verstehe ich nicht. Wie merkwürdig. Die Gedichtzeilen erscheinen mir eher trist oder hoffungslos, die Vergangenheitsform, er hat aufgegeben. Bitte erklären Sie weiter, Aporie!

Woody-Allen-Ironie, das ist doch wie der Dialog aus 'Manhattan': "Warum bist du so nervös?" - "Ich hab aufgehört zu rauchen." - "Ja wann denn das?", (und wie aus der Pistole geschossen:) "Vor sechzehn Jahren".

Bettinescu Bucuresti
20.02.2002, 12:05
Aporie, Sie haben recht. Es geht nicht darum, einen Schriftsteller nach seinem sexuellen GEschmack zu messen. Nun hat er eben nunmal mich angemacht und nicht ich ihn... deswegen wird man sich ja wohl darüber auslassen dürfen. Ich habe die "Ausweitung der Kampfzone" begonnen und freue mich über den Erwerb dieses guten Buches. Ich habe übrigens gestern wieder die GEschichte einer Journalistin gehört, die in Interview mit iHouellebecq machen wollte. Er hat angeblöich gesagt: "Erst müssen Sie sich ausziehen". Das war angeblich total ernst gemeint., Nachdem siedas dann nicht getan hat, unter anderem weil sie meinte "Aber Ihre Frau ist doch im Nebenzimmer", woraufhin er: Das macht nichts", gabs auch kein Interview! Tja, Pech gehabt.

Aporie
20.02.2002, 12:54
Das führt nicht weiter, Herr Cohn. Unser Ironieverständnis ist zu unterschiedlich.

Herr Cohn
20.02.2002, 18:53
Glaub ich gar nicht, Aporie. Ihre Ironie jedenfalls ist immer unmissverständlich und fein! Aber die von Houellebecq -
Bin sehr gespannt darauf zu lesen, weshalb du die "Ausweitung" gut findest, Bettinescu. Das lässt sich prima und sehr nachteilig mit den Büchern von Paul Auster vergleichen. Der schreibt konzentriert und plastisch über das innere Elend als Prozess, und immer muss der Leser mitdenken um zu begreifen, wie es dazu kam und Auster zwingt ihn, sich Wege von dort heraus zu suchen. Das hat mir großen Eindruck gemacht. Houellebecq dagegen - er quatscht eine Journalistin an und kriegt dann kein Interview. Pech! Sein Buch ist doch genauso.

Klaus Caesar
23.03.2002, 02:23
So, inzwischen habe ich mein Versprechen eingelöst und „Ausweitung der Kampfzone" gelesen. Ich war, kurz gesagt, sehr positiv überrascht. Nach allem, was ich hier über den französischen Michel gelesen hatte, erwartete ich dumme Sexprotzereien, fand aber das genaue Gegenteil: kluge Auslassungen über das sexuelle Scheitern. Da heißt, noch ziemlich weit am Anfang, ein Kapitel „Catherine, kleine Catherine". Der Erzähler lernt eine kleine Catherine kennen, und der Leser denkt sich: Alles klar, das wird eine Hauptfigur, alldieweil die beiden es miteinander treiben werden etc. Aber nüschte: Es passiert gar nix, nicht einmal entfernt, sieht man von ein paar unmotivierten Phantasien des Erzählers ab, und nach ein paar Seiten ist die kleine Catherine schon wieder vergessen. Ich finde das sehr lebensnah.

Peinigend gut beobachtet und beschrieben: Die kläglichen, aussichtslosen und nicht von dem mindesten Teilerfolg gekrönten Versuche vom häßlichen Tisserand, irgendwie an irgendeine Frau zu kommen. Stünde die Episode von der Tanzerei in der Kneipe „Zwischenlandung" im „Große Geschichten"-Forum, ich würde sie unverzüglich blau machen. Ganz großes Kino!

Stutzig machte mich aber doch mancherlei: Zum Beispiel, daß ein Buch ein Besteller werden konnte, in dem Sätze wie diese stehen: „Ich liebe diese Welt nicht. Ich liebe sie ganz entschieden nicht. Die Gesellschaft, in der ich lebe, widert mich an; die Werbung geht mir auf die Nerven; die Informatik finde ich zum Kotzen." Wenn das von so vielen Lesern begeistert aufgenommen wird - wer ist dann noch „die Gesellschaft"? Offenbar immer die anderen. Aber ob die überhaupt noch gibt, die anderen? Drückt da der Erzähler nicht schon Common Sense aus, wo er sich noch als radikaler Außenseiter vorkommt?

Sodann: Wie kommt es, daß ein anscheinend ziemlich aufdringlicher Mensch so eindringlich von Verklemmung und Verschüchterung schreiben kann? Andersrum wär’s keine Kunst: Der Verdruckste, der ersatzweis in der Literatur auf wilder Hengst macht. Aber so? Kann es sein, daß der Herr Houellebecq eine ziemliche Persönlichkeitswandlung hin zum Unguten durchgemacht hat, seit er berühmt ist?

Desweiteren frage ich mich, wie Herr Cohn die Ironie übersehen kann, wenn es etwa um das „politische Pamphlet von seltener Schärfe" geht. Das ist doch nun wirklich evident, daß der scheinsouveräne Erzähler schlichtweg nix auf die Reihe kriegt und sich nur einbildet, seine Umwelt aus der Vogelperspektive betrachten zu können, während er von seinem Autor aus der Vogelperspektive betrachtet wird.

Nur eins fand ich wirklich nervig: Die Unmenge an Semikola. Fast mehr als Punkte. Wenn ich an einem Buch nicht viel mehr auszusetzen habe, dann will das aber auch schon was heißen. Houellebecq rules!

(Aber „Plattform" soll nun wirklich Scheiß sein, stimmt das?)

Aporie
23.03.2002, 14:30
Houellebecq schreibt Rollenprosa, was unter anderem bedeutet, dass das, was er schreibt, sich nicht mit den Ansichten des Autors zu decken braucht.

Gleiches gilt natürlich auch für die Leser von Rollenprosa. Sie können von Sätzen begeistert sein, ohne dass sie sich mit deren Inhalt identifizieren.

Im übrigen kann man der Gesellschaft weder als Minderheit noch als Mehrheit angehören. Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sondern spiegelt nur die herrschenden Verhältnisse.

Mit "Plattform" tue ich mich auch eher schwer, liegt angelesen herum. Was an Houellebecq anstößig erschien, scheint sich nun zu verselbständigen. Ohne die gewitzt provokative Unterfütterung seiner Thesen in "Ausweitung der Kampfzone" kommt es mir eher wie ein schaler Aufguss seiner früheren Bücher vor.

Klaus Caesar
23.03.2002, 22:04
Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sondern spiegelt nur die herrschenden Verhältnisse.
Det vasteh ick nich. Aber egal - was ich jedenfalls noch sagen wollte: Am spannendsten am Phänomen Houellebecq ist ja wohl, daß einer mit dem Namen Houellebecq international berühmt werden kann. Daran erkennt man seinen überraschenden Durchbruch. Wäre er von einem Verlag protegiert und gepusht worden, hätte er als erstes einen eingängigen Künstlernamen verpaßt bekommen.

Stimmen
23.03.2002, 23:59
Ähnliches Problem mit dem holländischen Manieristen Joachim Wtewael (1566-1638). Ich habe mal ein Malereilexikon im Antiquariat gekauft, weil Wtewaels Eintrag mit dem schönen Satz: "Das Vordringlichste, was man über Wtewael wissen möchte, ist wahrscheinlich die Aussprache, sie lautet: Uhtewahl" beginnt, und mit: "In einigen großen Küchenstücken führte er, hart und wenig glücklich, Beuckelaers Art weiter" endet. Ich glaube auch, daß Houellebecq ohne seinen Namen, den man laut Dirk von Foerster Ülbeck und nicht U-Elbeck ausspricht, nicht halb so populär wäre.

Ruebenkraut
24.03.2002, 00:34
ich dachte wie englisch "well back"

Bartholmy
24.03.2002, 01:16
denkt: 'und Wtewaels Küchenstücke in der Art Beuckelaers ... verhalten sich wie ein Kuchenstück zum Schokokeks?'

Ülbeck mag ich ja nicht. Langweilig. Aufgebackne alte schrippen. Habe lieber scharfe Schrippen, frisch vom Bäcker. Oder höre gleich Gainsbourg, das klingt auch viel schöner, lustiger, grusiger.

Gainsbourg sagte in einer Fernseh-Talkshow Anfang der 80er (verwechsele ich jetzt was?) zu (die war's doch, oder?) Whitney Houston: "Aije vhont tu föck wiff ju". Worauf sie kicherte. Und es aber sowieso nicht verstanden hatte, bei dem Akzent.
Das war gut.

Aporie
24.03.2002, 14:58
Ülbeck...Gott o Gott, da bleiben Sie doch besser bei U-Elbeck, Stimmen.
Was Sie in Zusammenhang mit seinem exotisch klingenden Namen wähnen, trifft zwar auf Stuckrad-Barre zu, aber gewiss nicht auf Houellebecq. Allerdings sind beide durch ihre affigen performances zu Labeln geworden. Aber H. und S. verhalten sich zueinander etwa wie Armani zu Aldi.

Herr Cohn
24.03.2002, 23:34
Ich glaube, eher wie Tom Taylor von 1988 zu Tom Taylor von 2002.