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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Marthaler, Christoph - oder Die Reise ins Unbewußte



martin p
31.01.2002, 21:20
Salzburg. Ich gehe so gerne ins Theater. Als junger Theaterfan bin ich einige Jahre hintereinander jeden Sommer nach Salzburg gepilgert. Zu den Festspielen. Zwischen den Vorstellungen hat man natürlich viel Zeit und streunt herum. Und als junger Mensch hat man ja auch nicht so viel Geld für Essen und Kaffee hier Kaffee da. Und man kann ja auch nicht ständig auf den Obersalzberg rauf fahren. Da muß man sich schon was einfallen lassen. Als ich einmal Richtung Hotel wandelte, dachte ich mir plötzlich, wie aufregend es sein könnte, einmal im Leben bei einer Probe zuzuschauen. Der Festivalzeitung hatte ich bereits aufgeregt entnommen, daß Christoph Marthaler augenblicklich „Zur schönen Aussicht“ probierte, was meine Abenteuerlust nur noch steigerte. Da ich mich außerdem ganz in der Nähe des Landestheaters befand, stieg mein Blutdruck ins Unermeßliche. Zudem war es Dienstags gegen 11 Uhr vormittags und es so mehr als wahrscheinlich, daß gerade probiert wurde.

Ich ging zwei mal um das Theater herum, bis ich mir Mut faßte und in den Bühneneingang schlüpfte. Was sollte mir schon passieren!? Ich setzte alles auf eine Karte. Dem Probenplan entnahm ich ganz professionell, was heute anstand: Bühnenprobe mit Sepp Bierbichler. Unglaublich. Einer meiner absoluten Lieblingsschauspieler in unmittelbarer Nähe. Würde ich jetzt aus vollem Hals „Bierbichler, Bierbichler“ schreien, schoß es mir schlagartig durch den Kopf, so wäre es nicht unwahrscheinlich, daß der Star meine Rufe verdutzt in der Garderobe vernehmen könnte. Verrückt. –Am Bühnenpförtner vorbeizukommen, war überhaupt kein Problem. Ich tat einfach so, als wollte ich super wichtig ins Haus, stürmte gespielt geschäftig auf die Glastür zu und warf dem Pförtner beim Gehen, als Gegenangriff sozusagen, ein flüchtig-nettes „Morgen!“ zu. Bei der Zahl an Gästen zu Festpielzeiten wunderte der Pförtner sich über gar nichts und öffnete mir selbstverständlich die Tür.

Selber quasi zum Schauspieler geworden, hatte ich den Pförtner überlistet. Er hatte gedrückt! Ich war im Theater. Es dauerte nicht lange, bis ich mich auf der Seitenbühne wiederfand und schlenderte auf einmal selbstverständlich, wenngleich von Überraschung darüber leicht benebelt, ins Zuschauerhaus. Techniker regelten gerade etwas auf der Bühne, und Marthaler plauderte mit ein paar Leuten an der Rampe. Ich wollte nun die Chance beim Schopfe packen und den Meister selbst höflich um Erlaubnis bitten, der Probe beiwohnen zu dürfen. Weil es ja nun auch gar kein Zurück mehr gab, sprach ich Marthaler einfach von der Seite an. Der Regisseur war zuerst etwas überrascht, wandte sich mir aber schließlich sehr nett zu und meinte im herzlichsten Plauderton, grundsätzlich sei es gar kein Problem, mal zuzuschauen, überhaupt nicht, aber gerade heute: sei es blöd. Da wäre eine Einzelprobe mit dem Bierbichler. Und Schauspieler seien ja sehr sensible Wesen. Die liefen manchmal auf sehr dünnem Eis. Und da müßte einfach Konzentration herrschen. Das verstünde ich natürlich, sagte ich. Kein Problem. Wirklich. Kein Problem.

Während er so nett auf mich einplauderte, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Anna Viebrock, Marthalers Bühnenbildnerin, mißtrauisch Adlerkreise um uns zog. Plötzlich stach sie in unser Geplapper hinein, unterbrach uns jäh und fragte mich energisch: „Wer sind sie denn überhaupt?“ - Diese Frage machte mich ein wenig benommen, weil ich sie in der akuten Streßsituation gar nicht auf meinen Namen bezog, sondern völlig existentiell nahm. „Wer sind sie denn überhaupt?“ So schnell wußte ich gar keine Antwort darauf. Wer bin ich denn überhaupt? Wer bin ich denn überhaupt? Diesen Satz noch eine Weile murmelnd, lief ich des Mittags die blei-grüne Salzach entlang.

Edding Kaiser
31.01.2002, 21:21
Ach, herrlich, Kinder!

anko
31.01.2002, 21:34
dieser text ist insoferne eine absolutes unikum, als er zuerst vorgelesen wurde (und zwar am deutschen theater in berlin) und erst danach hier gepostet.

eine flasche fernet, wer das toppt!

der hausm, der die technische abwicklung des obigen postings übernommen hat und daher für kurz in die rolle des martin p schlüpfte.

martin p ist der regisseur, der die 4 abende der paparazzi-lesungen in berlin inszeniert.

so, habe ich alles? ich denke ...

anko
31.01.2002, 21:35
ich weiss nicht, ob das irgendwen interessiert, aber mein obiges posting hat die nummer

120000

tja, das bedeutet doch was. nur was?

Edding Kaiser
31.01.2002, 21:36
Dass alles gut ist, wird und bleibt.

Aporie
31.01.2002, 21:38
Wunderschöner Schluss. Und Tobler weiß jetzt, wer er ist.
Andererseits: Wenn man Theater spielt, ist man auch nicht ich.

Edding Kaiser
31.01.2002, 21:40
Bin ich froh, dass ich nicht spiele, Aporie.

Aporie
31.01.2002, 21:53
Außer mit dem Leben, frei nach Hanswasheiri.

Elpenor
31.01.2002, 22:00
Gab es nicht irgendwelche Störungen im Foum vor kurzem? Schon komplett vergessen angesichts dieses Beitrags. War für ein Text, ach ach, bin entzückt.

Edding Kaiser
31.01.2002, 22:16
Einziger Schönheitsfehler dieser Geschichte ist und bleibt, dass Bierbichler in "Zur schönen Aussicht" weder mitgeprobt noch mitgespielt hat. Seltsam.

Aporie
31.01.2002, 22:54
Originally posted by martin p
Da wäre eine Einzelprobe mit dem Bierbichler. Und Schauspieler seien ja sehr sensible Wesen. Die liefen manchmal auf sehr dünnem Eis.

Entweder läuft jetzt Tobler auf sehr dünnem Eis oder er kommt gerade aus der Theaterkantine.

Edding Kaiser
31.01.2002, 23:13
Aporie, ich schliesse daraus, dass Sie "Zur schönen Aussicht" nicht gesehen haben, gell? Auf dünnem Eis tanzt hier Herr p.

Aporie
01.02.2002, 00:00
War bloß ein Scherz aus dem Zürcher Buhplikum, Tobler. Wo bleibt denn Hanswasheiri, den ich hier so dürftig vertrete?

Edding Kaiser
01.02.2002, 00:10
Weiss nicht, ich vermisse ihn auch, die kaputte Gästelistensau. Er hinterlässt eine Lücke, wenn er unentschuldigt fehlt...

Aporie
29.03.2002, 18:05
Letzten Mittwoch kaufte ich in der teuren Feinkost-Abteilung des Warenhauses Globus ein. Was ich damit sagen will: Es ist ein Ort, an dem Christoph Marthaler sofort auffällt.

Nicht etwa, weil man in ihm den Indendanten des Schauspielhauses erkennt. Das Kulturbewusstsein ist an dieser Stätte wohl so wenig entwickelt wie das Sparbewusstsein.
Ey, fragen sich die Leute vielmehr, was will denn der Penner hier? Woher hat der überhaupt das Geld, um hier einzukaufen?

Das kommt, weil Christoph Marthaler immer so aussieht, als hätte er sich aus einer Kleidersammelstelle der Heilsarmee bedient. Den Hang zum Schwarzen und Abgetragenen kombiniert er mit einer am Hinterkopf verzopften Frisur, einer Brechtbrille und einer Gesichtsbehaarung, die von oben nach unten gesehen vom Dreitage-, über den Dreiwochen- zum Dreimonatbart wechselt. Das Ganze ist gedeckelt mit einem abgeschabten Hut.

Nachdem ich beobachtet hatte, wie er ein Kalbsfilet (Fr. 9.80 p/100g) erstand, schlenderte ich eine Weile zwanglos hinter ihm her. Sein Einkaufsverhalten entsprach jener Mischung aus Neugier und Unentschlossenheit, wie sie nur reiche Leute an den Tag legen, die nie genau wissen, ob das, was sie gerade einkaufen, nicht bereits im Keller oder im Kühlschrank lagert.

Als sich unsere Einkaufswagen zum dritten Mal begegneten, fiel mir auf, dass seine listigen Äuglein die Auslagen nach Biologischem durchkämmten. Hin und wieder griff er erfreut zu und lächelte dabei wie Salman Rushdie neben Freundin Padma in der letzten Spiegel-Ausgabe. Nicht ganz so weltläufig vielleicht, eher behäbig schweizerisch, ein Salman Rösti-Lächeln eben.

MarkusB
29.03.2002, 19:29
Und Ihr Einkauf?

Herr Cohn
30.03.2002, 03:18
Eine neue Pappengeschichte von Aporie! Ich hole erstmal Luft, lese, hole wieder Luft, lese es nochmal. Ah, wie ist es doch gut, hier zu sein.

Krapp
13.04.2002, 15:02

Aporie
28.01.2004, 19:44
Inzwischen müssten wir uns ja kennen, nicht nur ich ihn, auch er mich, denn vor gut einem Jahr hat er mir mit Tränen der Rührung in den Augen die Hand geschüttelt.

Aber jetzt hat er nur Augen für Essbares, denn er kauft ein. Am Gemüse- und Früchtestand der Lebensmittelabteilung, die unser beider tägliches Ausflugsziel zu sein scheint, wird man noch wie früher von Verkäuferinnen bedient, muss also öfter den Zeigfinger benützen, wenn man besonders wählerisch ist. "Nein, nicht die", sagt er, "die daneben" und kriegt jetzt genau die gelbe Rübe, die er sich gewünscht hat, will aber noch Chicorée und läuft auf gleicher Höhe mit der Verkäuferin zur anderen Ecke der Auslage, wo dieses Gemüse wie Orgelpfeifen aufgereiht ist, in gleichmässiger Größe und Dicke, weil man ja keine Töne damit erzeugen muss. Aber Marthaler will zeigen.

Er kauft dann noch Knollensellerie, der ein bisschen im Schatten liegt, und deshalb tritt er jetzt tatsächlich hinter den Ladentisch und versperrt der Verkäuferin, die mich schon als nächsten Kunden ins Auge gefasst hat, den Weg. Weil es ein vornehmer Laden oder ein vornehmer Kunde ist, stupst sie ihn nicht an, sondern verdreht bloß die Augen.

Zwei Minuten später lässt er sich nebenan einen schwarzen Trüffel nach dem andern über die Theke reichen und riecht ausgiebig daran. Dabei müsste er als Stammkunde wissen, dass das Dutzend Trüffel schon seit zehn Tagen in unveränderter Anzahl da liegt und man besser die nächste Lieferung abwartet. Ich überlege kurz, ob ich ihm noch einmal beistehen soll, was nach aller Voraussicht das letzte Mal in meinem und seinem Leben wäre. Aber schliesslich finde ich, dass nach „Marthaler bleibt“ und „Marthaler geht“ „Marthaler riecht“ eine doch recht flotte Abwechslung ist und gucke ihm zu, bis er den Knollen gekauft hat.