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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Bourdieu, Pierre



Dreizehn Koestlichkeiten
25.01.2002, 13:54
Pierre Bourdieu betrat einen Raum immer so, als sei es ihm etwas peinlich, Pierre Bourdieu zu sein. Einmal mußten die Doktoranden im trostlosen Seminarraum der École des Hautes Études besonders lange auf ihn warten, und als er endlich kam, war es ihm besonders unangenehm, zu spät zu sein, und noch unangenehmer, derart erwartet zu werden. Aus Verlegenheit und um Zeit zu gewinnen sprach er möglichst schnell, mit einem deutlichen südfranzösischen Akzent. "Wißt ihr was? Ich habe euch völlig vergessen. Und ich bin auch nicht vorbereitet. Kein Ahnung, was wir hier heute machen sollen", sagte er, selbst ganz erstaunt, mit einer alten Plastiktüte unter dem Arm. "Ich habe aber meine Post dabei", und er begann, einige Umschläge zu öffnen und still zu lesen. Langsam, aber sicher wuchs das Entsetzen des Publikums. "Jetzt lese ich euch mal meine Post vor. Und ihr denkt sicher, der Alte hat sie nicht mehr alle."

Der erste Brief war von einem indischen Kunsthistoriker, der klassische hinduistische Künstler untersuchen wollte und entdeckt hatte, daß diese angeblich originär indische Kunst in den Pariser Akademien des späten neunzehnten Jahrhunderts erfunden worden war. "Was antworte ich ihm? Inhaltlich hat er natürlich recht, aber sein Stipendium von der indischen Regierung kann er vergessen." Ein anderer Brief kam von einem katholischen Geistlichen in der Bretagne, der vom Glauben abgefallen war und jetzt als Religionssoziologe arbeiten wollte. "Die gibt es aber wie Sand am Meer. Da wird er gleich arbeitslos." Die täglichen Postberge des Professors Bourdieu waren eine Sammlung von Fällen wissenschaftlicher Ratlosigkeit. Wie überlebt man die Sozialwissenschaften? Das wurde zum eigentlichen Thema der spannenden Sitzung. Und was macht die Wissenschaft mit denen, die sie praktizieren?

[...]

Pierre Bourdieu lebte mit einer doppelten Berühmtheit: als meistzitierter Wissenschaftler Europas und als politischer Aktivist. Traf man ihn unter vier Augen, sprach er bald davon, wie lästig ihm das war: "Das nervt mich alles. Nachts träume ich davon, unterzutauchen, einen anderen Namen anzunehmen und zurückzukehren in den Béarn." Aber erst muß er noch nach Marseille, zu einem Kolloquium. "Da gehe ich nur kurz hin", erklärt er fröhlich, "danach fahr ich in die Banlieue, klingele irgendwo und stelle dumme Fragen über die Möbel, über die Schule und übers Essen." Er blickt auf die Uhr, er muß zum Zug. Pierre Bourdieu ist am Mittwoch abend in Paris gestorben.

Nils Minkmar, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Januar 2002

Edding Kaiser
25.01.2002, 14:37
In Pierre Bourdieus Mund, zwischen seinem Eckzahn und seinem Schneidezahn, flatterte eine lange, blassrosane Fleischfaser als er mit der Ärztin und mir sprach. Nachher sagte die Ärztin, dass sie während des gesamten kurzen Gesprächs der Frage nachgehangen hatte, ob es wohl Nahrungsreste oder Pierre Bourdieus eigenes und in Auflösung befindliches Zahnfleisch sei, was da so neckisch im Philosophenatem wehe. Ich hatte das auch gedacht.

Pierre Bourdieu - Eine grosse Faser hat aufgehört zu flattern.

DerCaptain
25.01.2002, 21:14
Wunderschön. Danke, 13k!

Bartholmy
26.01.2002, 03:09
Und noch ein O-Ton:

"Die Verwendung des Tanzes innerhalb der Pädagogie der Jesuiten ist bekannt. Zu analysieren wäre auch die dialektische Beziehung zwischen Körperhaltungen und den entsprechenden Gefühlen: bestimmte Haltungen oder Stellungen annehmen bedeutet, wie wir seit Pascal wissen, die Empfindungen oder Gefühle die sie zum Ausdruck bringen, zu indizieren oder zu verstärken."

zoegernitz
27.01.2002, 17:52
heute abend gibt´s einen spezial-sumpf zum tod von pierre bourdieu (fm4, 21-23 uhr).

poldi
27.02.2003, 12:16
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