Wilfried Wieser
29.12.2001, 03:58
Gestern, am siebenten Tag dieses Winters, begann der Winterschlussverkauf, mit, wie es im Jargon heisst, aggressiven Preisreduktionen, wodurch sich nun auch in der vierten Dezemberwoche die Käufer, wie bereits in den Wochen davor, in die Geschäfte kneteten, diesmal wohl in der Absicht, das zu Kaufende nicht gleich wieder zu verschenken.
In diesem Ambiente erstaunte mich die Unüberfülltheit des einzigen Kaffeehauses der oberösterreichischen Landesauptstadt; als ich das Lokal heute am späten Vormittag betrat, standen bereits im ersten Raum mehrere Tische zur Auswahl, sogar zwei meiner Lieblingsplätze waren unbesetzt, ich hatte also kurz nach dem Aufwachen bereits eine Entscheidung zu treffen. Der Umstand, dass mir beide Tische absolut gleich angenehm sind, machte zwar eine Fehlentscheidung unmöglich, aber auch die Entscheidung selbst: es war unmöglich, einen der beiden Tische zu bevorzugen, beide waren gleich gut, da es jedoch absurd gewesen wäre, stehen zu bleiben, setzte ich mich an einen der beiden. Als ich saß, bemerkte ich, dass ich falsch saß, paparazzistisch falsch, da in Hörweite des anderen Tisches der Präsident der österreichischen Wirtschaftskammern diese für die Wirtschaft so einträglichen Dezemberstunden verbrachte.
Nun, kaum jemand kennt den Präsidenten der österreichischen Wirtschaftskammern, ich denke, es sind Bruchteile eines Promilles der Weltbevölkerung. Wenn man sich jedoch in paparazzistisch benachteiligtem Terrain aufzuhalten hat (die prominenteste Person, die ich je in diesem Kaffeehaus wahrnehmen konnte, war ein Theaterregisseur aus Timelkam), wenn man also in der Wüste sitzt, wird selbst ein Kammerpräsident bedeutsam. Ich hätte durchaus gerne gehört, was Christoph Leitl seinem Gegenüber zu sagen gehabt hat. Um eine Wiedergabe seiner Worte zu rechtfertigen, wäre etwa auf die sogenannte Sozialpartnerschaft hinzuweisen, unter Verwendung der in diesem Zusammenhang üblichen Säulenmetapher. Leitl wäre sodann eine von zwei Säulen der österreichischen Sozialpartnerschaft, die andere Säule wäre der Präsident des Gewerkschaftsbundes, dessen Vorgänger, Anton Benja, übrigens in diesen Dezembertagen als Säule schlechthin bezeichnet wurde, "eine Säule des Nachkriegsösterreich" sei Benja gewesen, hiess es in Nachrufen (Anton Benja war am 40. Geburtstag von Tex Rubinowitz verstorben).
Nun saß ich aber am falschen Tisch und hörte nichts. Ja ich konnte Leitl nicht einmal sehen, wäre er wenigstens von einer Säule verdeckt gewesen, ich hätte eine billige Pointe, doch er war von einem Blumentopf verdeckt. Der Topf selbst verdeckte Leitls linke Wange und die Blumen alles oberhalb seiner Oberlippe. Der Kopf seines Gesprächspartners verdeckte Leitls rechte Wange, ich sah also lediglich Leitls Mund, ohne hören zu können, was dieser Mund sprach. Christoph Leitl hat einen sehr schönen Mund, schmale, aber nicht unsinnliche Lippen. Er vermag es, beim Sprechen die Unterlippe kaum zu krümmen, was diesem seinem Sprechen etwas vornehm Charaktervolles und gleichzeitig Bauchrednerpuppenhaftes gibt. Leitl hat einen guten Mund.
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Eine vom Setting her ähnliche Papung will ich in diesen Ausverkaufstagen hier noch gratis beilegen: wenige Monate vor Christoph Leitls Mund sah ich ein Auge Elfriede Jelineks.
Jelinek war von unten gekommen, offenbar, ich erblickte sie am oberen Ende eines Aufganges, welcher aus dem U-Bahn-Bereich unter dem Wiener Karlsplatz, hinauf, direkt vor den Gastgarten des Café Museum führt. Ich saß in angenehmer Gesellschaft in diesem Garten und sah, dass Jelinek einem Kolporteur Zeitungen abkaufte, verfolgte die Szene aber nicht weiter und nahm einige Minuten später wahr, dass die Schriftstellerin nunmehr im Gastgarten saß, etwa zwei Tische von mir entfernt, ich sah ihren Rücken, am Stuhl neben ihr lagen nicht nur die zuvor von ihr erworbenen Zeitungen, sondern auch einige Zeitschriften, die sie offenbar schon länger mit sich geführt hatte, was aus dem Umstand zu ersehen war, dass in einer dieser Zeitschriften einige zusammengeheftete A4-Blätter steckten.
Aufgrund des Verkehrslärms war wiederum keinerlei akkustische Wahrnehmung möglich, ich hatte ohnehin keine diesbezüglichen Ambitionen, wie erwähnt war ich sehr erfreulich begleitet. Doch als Jelinek ein Spiegelchen zur Hand nahm, um in ihrem Antlitz etwas Kosmetisches zu verrichten, blickte ich wieder auf und sah das Rund des Spiegels: darin ein Jelineksches Auge, einige Sekunden sah ich dieses Auge sehen; ein exzellentes Auge.
In diesem Ambiente erstaunte mich die Unüberfülltheit des einzigen Kaffeehauses der oberösterreichischen Landesauptstadt; als ich das Lokal heute am späten Vormittag betrat, standen bereits im ersten Raum mehrere Tische zur Auswahl, sogar zwei meiner Lieblingsplätze waren unbesetzt, ich hatte also kurz nach dem Aufwachen bereits eine Entscheidung zu treffen. Der Umstand, dass mir beide Tische absolut gleich angenehm sind, machte zwar eine Fehlentscheidung unmöglich, aber auch die Entscheidung selbst: es war unmöglich, einen der beiden Tische zu bevorzugen, beide waren gleich gut, da es jedoch absurd gewesen wäre, stehen zu bleiben, setzte ich mich an einen der beiden. Als ich saß, bemerkte ich, dass ich falsch saß, paparazzistisch falsch, da in Hörweite des anderen Tisches der Präsident der österreichischen Wirtschaftskammern diese für die Wirtschaft so einträglichen Dezemberstunden verbrachte.
Nun, kaum jemand kennt den Präsidenten der österreichischen Wirtschaftskammern, ich denke, es sind Bruchteile eines Promilles der Weltbevölkerung. Wenn man sich jedoch in paparazzistisch benachteiligtem Terrain aufzuhalten hat (die prominenteste Person, die ich je in diesem Kaffeehaus wahrnehmen konnte, war ein Theaterregisseur aus Timelkam), wenn man also in der Wüste sitzt, wird selbst ein Kammerpräsident bedeutsam. Ich hätte durchaus gerne gehört, was Christoph Leitl seinem Gegenüber zu sagen gehabt hat. Um eine Wiedergabe seiner Worte zu rechtfertigen, wäre etwa auf die sogenannte Sozialpartnerschaft hinzuweisen, unter Verwendung der in diesem Zusammenhang üblichen Säulenmetapher. Leitl wäre sodann eine von zwei Säulen der österreichischen Sozialpartnerschaft, die andere Säule wäre der Präsident des Gewerkschaftsbundes, dessen Vorgänger, Anton Benja, übrigens in diesen Dezembertagen als Säule schlechthin bezeichnet wurde, "eine Säule des Nachkriegsösterreich" sei Benja gewesen, hiess es in Nachrufen (Anton Benja war am 40. Geburtstag von Tex Rubinowitz verstorben).
Nun saß ich aber am falschen Tisch und hörte nichts. Ja ich konnte Leitl nicht einmal sehen, wäre er wenigstens von einer Säule verdeckt gewesen, ich hätte eine billige Pointe, doch er war von einem Blumentopf verdeckt. Der Topf selbst verdeckte Leitls linke Wange und die Blumen alles oberhalb seiner Oberlippe. Der Kopf seines Gesprächspartners verdeckte Leitls rechte Wange, ich sah also lediglich Leitls Mund, ohne hören zu können, was dieser Mund sprach. Christoph Leitl hat einen sehr schönen Mund, schmale, aber nicht unsinnliche Lippen. Er vermag es, beim Sprechen die Unterlippe kaum zu krümmen, was diesem seinem Sprechen etwas vornehm Charaktervolles und gleichzeitig Bauchrednerpuppenhaftes gibt. Leitl hat einen guten Mund.
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Eine vom Setting her ähnliche Papung will ich in diesen Ausverkaufstagen hier noch gratis beilegen: wenige Monate vor Christoph Leitls Mund sah ich ein Auge Elfriede Jelineks.
Jelinek war von unten gekommen, offenbar, ich erblickte sie am oberen Ende eines Aufganges, welcher aus dem U-Bahn-Bereich unter dem Wiener Karlsplatz, hinauf, direkt vor den Gastgarten des Café Museum führt. Ich saß in angenehmer Gesellschaft in diesem Garten und sah, dass Jelinek einem Kolporteur Zeitungen abkaufte, verfolgte die Szene aber nicht weiter und nahm einige Minuten später wahr, dass die Schriftstellerin nunmehr im Gastgarten saß, etwa zwei Tische von mir entfernt, ich sah ihren Rücken, am Stuhl neben ihr lagen nicht nur die zuvor von ihr erworbenen Zeitungen, sondern auch einige Zeitschriften, die sie offenbar schon länger mit sich geführt hatte, was aus dem Umstand zu ersehen war, dass in einer dieser Zeitschriften einige zusammengeheftete A4-Blätter steckten.
Aufgrund des Verkehrslärms war wiederum keinerlei akkustische Wahrnehmung möglich, ich hatte ohnehin keine diesbezüglichen Ambitionen, wie erwähnt war ich sehr erfreulich begleitet. Doch als Jelinek ein Spiegelchen zur Hand nahm, um in ihrem Antlitz etwas Kosmetisches zu verrichten, blickte ich wieder auf und sah das Rund des Spiegels: darin ein Jelineksches Auge, einige Sekunden sah ich dieses Auge sehen; ein exzellentes Auge.