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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Heinz, Carlos Alberto (Der Ermordete aus dem 4. Stock)



anko
21.12.2001, 23:11
Der Ermordete aus dem 4. Stock

Seit einem dreiviertel Jahr habe ich ein Büro in Berlin, das heißt, ich bin der Mieter eines sehr kleinen Schreibtisches einer kleinen Filmfirma, die ein sehr großes Büro und viele Schreibtische hat und daher jede Menge Platz für Menschen wie mich.

Das Büro liegt direkt an der Grenze zwischen den Bezirken Berlin-Mitte und Kreuzberg und hat die Adresse Friedrichstraße Ecke Kochstraße. Das Haus, in dem sich das Büro befindet, gehört dem Bezirk Kreuzberg, im Erdgeschoß befindet sich eine schlechtgehende Buchhandlung, in den Stockwerken zwei bis drei die Volkshochschule, aber das weiß ich nicht so genau, denn über den ersten Stock bin ich bis heute nicht hinausgekommen, da liegt nämlich mein Schreibtisch.

Als ich nun vor rund einer Woche in "mein" Büro kam, war erst alles, wie gewohnt: Kaum jemand da, Kiki, die Sekretärin, stand am einen Spalt geöffneten Fenster, rauchte und sah dabei in den tristen Hinterhof hinunter, die riesigen Räume leer und erfüllt vom Lärm des heftigen Autoverkehrs auf der Kochstraße.

Dann kam Stephan R., der Firmenbesitzer und Hauptmieter, und alles war vorbei. Er fragte, ob ich Carlos Alberto Heinz kenne, den Mieter aus dem vierten Stock. Kannte ich nicht, worauf Stephan sagte: "Die ganzen Schallplatten, die der Postbote immer bei uns abgegeben hat und die da draußen im Flur gleich neben der Eingangstüre stehen - die gehören ihm."

Ja, die Schallplatten, die kannte ich, denn ich hatte sie schon öfter in Empfang genommen und mich darüber gewundert, wer heute noch Vinyl kauft und dann noch dazu in solchen Umfang.

Und nun war der Empfänger der Schallplatten tot. Ermordet.

Carlos, so erzählte Stephan, habe eine Reihe von Geschäften gemacht, die er nie durchblickt habe, unter anderem habe er ein Tekkno-Label betrieben, aber aus Geldmangel andere Gesellschaften gegründet, Geld über Förderungen besorgt, "was weiß ich, ich habe mich jedenfalls so lange darüber gewundert, daß Carlos mit seinen unübersichtlichen Geschäften über die Runden gekommen ist, bis ich eines Tages überzeugt war: Er ist eine von diesen Berliner Existenzen, die nie untergehen und die es immer schaffen."

Ganz so gut konnten die Geschäfte dann doch nicht gegangen sein, denn Carlos war immer wieder gezwungen, Taxi zu fahren, um sich und sein Label über die Runden zu bringen. Und nun war ihm dieses Taxifahren zum Verhängnis geworden.

Man hatte nämlich in der Gegend von Eberswalde das völlig zertrümmerte Taxi von Carlos gefunden, darin aber eigenartigerweise einen jungen toten Mann. Die Polizei hatte erst geglaubt, er sei der Taxifahrer und habe einen Unfall gehabt - bis sie in dem Wagen ein Bajonett und einen Handschuh gefunde hatte, beide mit Blut beschmiert, das eine andere Blutgruppe hatte als das des Toten.

Es stellte sich heraus, daß der 22jährige Tote den Labelbesitzer ermordert und dessen Leiche in einen Wald geworfen hatte. Er sei sehr schwer zu identifizieren gewesen, war später im Berliner Tagesspiegel zu lesen, da erst der Mörder ihn verstümmelt und dann das Wild ihn angefressen habe. Der Mörder jedenfalls war noch in die Wohnung seines Opfers gefahren, um dort nach Wertvollem zu suchen, habe aber nur einen Computer gefunden. Auf der Fahrt mit dem gestohlenen Taxi dann sei er - welche Ironie des Schicksals - wohl Wild ausgewichen, das die Straße kreuzte, und dabei tötlich verunglückt.

Da ich Carlos nur in Gestalt der braunen Schallplatten-Kartons kannte, blieb mir sein Schicksal eher gleichgültig, bis auf das ungewisse Gefühl, es habe mich etwas Kalt-Großes gestreift - bis mich die Geschichte heute, drei Tage vor Weihnachten, an diesem Freitag Spätnachmittag, doch noch erreichte und ich Teil von ihr wurde, wenn auch ein verschwindend kleiner. Ich war allein in dem riesigen Büro als es klingelte. Erst wollte ich nicht an die Türe gehen, da es nur für die Hauptmieter sein konnte und die schon seit Stunden in den Weihnachtsferien. Als mir dann einfiel, es könnte ein Paketbote sein, der nun den ganzen Weg vergeblich gemacht hatte und das drei Tage vor Weihnachten, öffnete ich doch noch.

Draußen stand ein älterer, dicker Herr, 55 bis 60 Jahre alt, lächelte freundlich und fragte mich: "Haben Sie Carlos gekannt?" In seinen Händen hielt er Briefkuverts mit schwarzem Rand und kleine, sichtlich schon oft kopierte Zettel. Als ich etwas Unverständliches murmelte, meinte er: "Ich bin nämlich der Vater von Carlos und wollte Ihnen das hier bringen. Sie haben ihn ja gekannt, ja?" Er sagte das so hoffnungsvoll-bestimmt, daß ich nickte.

Er gab mir den schwarzumrandeten Umschlag: "Da. Wenn er begraben wird, ist ja niemand da, alle sind weg, auf Urlaub. Es ist am 3. Januar." Er sah hilflos drein, weil er wußte, daß er mit seiner Vermutung recht hatte. Dann gab er mir den kopierten Zettel und lächelte wieder: "Aber am 23. Januar - da haben dann alle Zeit, nicht? Da ist die Einsegnung der Urne." Er sah mich an. "Und wenn Sie oder jemand anderer aus ihrer ... ihrem ... Geschäft, na, aus den Medien, etwas sagen wollen ... will ... eine Rede halten will - das wäre gut. Rufen Sie mich an. Die Telefonnummer steht auf der Traueranzeige."

Als er das sagte fiel mir die Traueranzeige ein, die die Verwandten eines Freundes vor über zwanzig Jahren aufgegeben hatten. Sie hatte gelautet: "Um Christian H. trauern alle Verwandten und seine "Jeansfreunde"" - die Jeansfreunde waren von Menschen in Anführungszeichen gesetzt worden, die ahnten, daß es da im Leben ihres Christian Menschen gegeben hatte, von denen sie nichts wußten, außer daß sie ihnen sehr fremd waren - und daß sie Jeans trugen. Genau so stand da der Vater von Carlos und wußte nur, daß sein Carlos Freunde oder zumindest Bekannte gehabt haben mußte, die ihm unbekannt geblieben waren. Menschen aus "den Medien", die er jetzt aufsuchte, damit sie sich von seinem Sohn verabschieden konnten. Und wem erzählte er das? Einem Wildfremden, der von seinem Sohn seit genau zwei Minuten ein Photo kannte, auf dem der unbestimmt in die Welt blickte, ganz ohne irgendeine erkennbare Regung.

Der Vater griff nach dem schwarzumrandeten Kuvert in meiner Hand, um mir die Telefonnummer zu zeigen, unter der ihn alle anrufen sollten, die bei der Einsegnung der Urne etwas sagen wollten. Er öffnete das Kuvert - es war leer. "Ach, so ein ..." - es fielen ihm alle Zettel und Kuverts aus der Hand und segelten zu Boden. Er lachte. Ich habe die Nummer dann mit Bleistift auf die Anzeige geschrieben, unter die Adresse der Eltern, denn sie fehlte.

Elpenor
21.12.2001, 23:58
hat fertig gelesen, schaut lange, lange Zeit unbestimmt auf den Monitor, rückt den Kopf kurz weg, dann wieder zurück Richtung Monitor, verharrt weiter in dieser Stellung.

Die Wucht
22.12.2001, 00:15
Gott, ist das traurig.

Klede
22.12.2001, 00:18
sprachloses Staunen und Dankbarkeit

Angelika Maisch
22.12.2001, 00:47
Anko, wirst du hingehen und dem Ermordeten die erste und letzte Ehre erweisen? Einer muß es doch tun, dem Vater zuliebe.

Bartholmy
22.12.2001, 01:04
Ich hatte die Taximord/Wildunfall-Geschichte vor einigen Tagen, wohl in der U-bahn, in der Zeitung gelesen und dabei wahrscheinlich ungefähr gedacht 'Wie kurios'.

Und nun diese Geschichte.

Jetzt denke ich 'Weniger Zeitung, noch mehr Forum lesen'.
Und aber andererseits auch: 'Noch mehr Forum, hmhmhm...'.

Es ist traurig, alles. Und ich weiß auch nicht.

hanswasheiri
22.12.2001, 01:04
Anko, ich will Dich da wissen. Da müsstest Du schon eine gut Ausrede haben, damit wir Dich nichtAnko, den pietätslosen Sack, der lieber in der Wärme seines Büros erzählerischen Profit aus Leichen schlägt als diesen die letze Ehre zu erweisen nenne würden.

der hausm
22.12.2001, 02:15
ich werde hingehen

Angelika Maisch
22.12.2001, 03:41
sag Grüße im Namen von uns allen, Anko.

Kathrin Passig
22.12.2001, 04:02
Musste weinen. War allerdings auch ein bisschen übermüdet. Trotzdem sollten ermordete Leute keine Eltern haben dürfen, sowas geht einfach nicht.

Ruebenkraut
22.12.2001, 09:52
Sollten vielleicht alle Berliner Pappen hingehen und Reden halten?


Nein, wohl doch lieber nicht.

Murmel
22.12.2001, 12:37
Reiht sich bei den Sprachlosen ein.

Gut, dass Du hingehst, Anko.

Andrea Maria
22.12.2001, 13:31
Una mucho sentimental Geschichte.

sieht berührt auf ihre Schallplattensammlung.

Christopher Wurmdobler
22.12.2001, 14:56
das ist die verdammt schönste geschichte, die ich hier seit längerem gelesen habe.

bangen
22.12.2001, 15:05
Ja, schön, zum heulen, K I T S C H I G ?

Herr Cohn
22.12.2001, 20:06
Quatsch, bangen. Das geht Einem doch durch und durch. Der Vater, der versucht, Haltung zu bewahren, aber wie soll er's machen, und Anko, der den Ermordeten nicht mal gekannt hat.

DREA
23.12.2001, 10:19
Macht eine sehr schwere Seele, diese Geschichte! Vor allem der Vater, der versucht, Menschen zu finden, die seinem entfremdeten Sohn die "letzte Ehre" erweisen. Frage mich gerade, wen meine Eltern wohl ansprechen wuerden, denn wie und mit wem ich die Jahre verbracht habe, davon wuessten sie nur sie nur sehr wenig...

DonDahlmann
23.12.2001, 13:10
Was für eine traurige Geschichte. Und das zu Weihnachten. Die armen Eltern, die nun mit diesem Erlebnis alleine unter dem Weihnachtsbaum sitzen.
Ich habe es noch nie verstanden, wie ein Mensch, einen anderen ohne Not umbringen kann. Wie man gefühlslos ein Messer in den Körper eines anderen Menschen stecken kann, wie man auch noch überprüft, ob der andere wirklich tot ist. Und das wegen Geld.

DerCaptain
23.12.2001, 17:07
Ja. Anko, was willst Du erzählen?
Wenn die Eltern ihren Sohn kaum mehr kannten, kannst Du Dir ja was ausdenken.
Oder wirst Du rechercheiren, seine Freunde etc. befragen?
Oder willst Du völlig neutral sprechen, über Tod & Vergehen und irgendwann den Namen des Verstorbenen einflechten.
Je länger ich drüber nachdenke, desto kniffliger kommt mir dieser letzte Dienst vor.

der hausm
24.12.2001, 01:51
Originally posted by DerCaptain
Ja. Anko, was willst Du erzählen?
Je länger ich drüber nachdenke, desto kniffliger kommt mir dieser letzte Dienst vor.

ich werde keinesfalls was sagen, ich wüßte wirklich nicht was - es gibt aber den hauptmieter des büros, der ihn etwas näher gekannt hat und den werde ich bitten, das zu machen. und ich denke, er wird es machen.

ich poste dann die genauen daten des begräbnisses hier - ich denke, es wäre eine respektvolle geste, wenn einige mitkämen.

Aporie
02.01.2002, 20:28
Der unangestrengte, leise und doch eindringliche Ton, in dem Anko diese Geschichte erzählt, hat mich mehr gepackt als alles, was mir die Medien seit dem 11. September in greller Aufmachung über den Tod und die, welche er in sprachlosem Entsetzen zurücklässt, vermitteln konnten. Wie windig nimmt sich daneben die krampfhafte Verpersönlichung des Tower-Dramas aus, mit der uns einige Spiegel-Redakteure in ihrer boulevardesk reißerischen Betroffenheitsserie genervt haben.

graumauser
02.01.2002, 20:49
Ja, so ähnlich ging mir das auch durch den Kopf. Mit dem Tod, dem natürlichen Tod des Sterbens oder dem unnatürlichen des Tötens habe ich mich in den letzten Tagen des alten Jahres hier im Forum beschäftigt.

Den der anko-Geschichte zugrundeliegenden Sachverhalt kannte ich aus der Zeitung. Deshalb ist mir die ganze Story hier noch einmal sehr an die Nieren gegangen.

Manchmal hat das Wort Pietät einen Sinn.

g.

Edding Kaiser
04.01.2002, 14:42
Na toll, kaum vier Tage ist das Jahr alt und schon muss ich weinen.
Fickende Hölle, ist das traurig!

Edding Kaiser
25.07.2002, 12:38
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Kony Faehre
25.07.2002, 13:02
Danke für den Punkt, Herr Tobler!

Max DeRire
25.07.2002, 13:57
Dieser ganze Tag ist schon alles andere als daily soaped und ich höre gerade einen besonders melancholischen Titel der
großen belgischen Band Fence und bin froh, dass morgen endlich Wochenende ist. Ich wünsche mir tausend mehr solcher Erzählungen, aber eigentlich doch nicht, so oft darf man nicht
herzhaft trauern.

starlingM
25.07.2002, 15:10
Bin froh, diese Geschichte noch zu lesen bekommen zu haben - obwohl sie wirklich sehr traurig ist.
Wie ist es denn damals weitergegangen?
War jemand auf der Beerdigung?
Seltsam, ohne ihn gekannt zu haben, fühlt man sich Carlo Alberto Heinz nahe - und noch mehr seinem Vater.

AntonH
13.12.2002, 18:06
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AntonH
01.04.2004, 10:40
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