Lilaxista
21.12.2001, 17:11
Auf der Flucht vor Helmut Kohl
Sommerferien! Wie alt war ich, vierzehn oder fünfzehn.
Meine Eltern hatten ein Ferienhäuschen gemietet auf Föhr, die Nordsee-Insel gleich zwischen Amrum und Sylt. Es waren schöne Ferien, wild gemischtes Wetter, Krabben, frisch vom Hafen, Milch, frisch vom Bauern, Butterkuchen, frisch vom Bäcker, noch immer duftet mir die Insel nach Wind und Gras, Salzwasser und Kühen, vor allem aber nach Tee und Teestuben, in die man sich nach langen Fahrradtouren rettete. Kandis, Sahne und Zimt lagen in der warmen Luft fast jeder Hütte die man gebückt betrat, die Reetdächer reichen dort ja schier bis zum Boden, die Türen findet man kaum, so wuchern die Rosen. ‚Schlumpfhausen’ dachten wir, als wir das erste Mal durch den kleinen Ort fuhren in dessen Nähe unser Haus lag.
Wenn wir nicht draußen unterwegs waren, verbrachte ich die meiste Zeit damit, im Haus zu sitzen und Würfeln zu üben. ‚Kniffel’ hieß das Spiel, ich war besessen von der Idee, besser als meine statistischen Chancen zu werden, die Würfel mir gefügig zu machen. Als dann beim Dorffest eine Bude stand, an der man Aale erwürfeln konnte, lachten meine Eltern und schickten mich hin. Ich zögerte nicht, ich war ja in Übung. Gewürfelt und –gewonnen! Nicht den dicksten, aber immerhin einen kleinen Räucheraal durfte ich mitnehmen.
Ferienfreude also, ungetrübt.
Eines Tages jedoch mussten wir erkennen, dass der die Republik immer heißer überrollende Bundestagswahlkampf auch vor unserem Ferienidyll nicht halt machen würde: Helmut Kohl lachte uns von jeder Litfass-Säule entgegen, sein Kommen war für den nächsten Tag angekündigt, die Insel würde toben.
Ein guter Tag, um einen Ausflug nach Amrum zu machen, beschlossen wir, denn der zu erwartende Trubel schreckte uns, und auch die Idee IHN zu treffen, und sei es nur zufällig und flüchtig war uns keineswegs lieb. So machten wir uns also an besagtem Tag sehr früh auf den Weg und folgten einer geleiteten Führung zu Fuß über das Watt zur Nachbarinsel Amrum, an deren Nordküste man schließlich wieder Land betrat. Dort, auf den Dünen machten wir eine Pause und sonnten uns ein wenig. Energie tanken für den Weg hinunter zur Südspitze, von wo aus uns ein Schiff wieder nach Föhr bringen würde.
So wanderten wir den ganzen Tag die Insel hinunter, wir waren fröhlich und guter Dinge. Nachmittags wurden wir müde und beschlossen, noch eine Rast einzulegen, es bot sich an, wir hatten grade einen kleinen Ort erreicht, und auch hier luden Teestuben ein, zu verweilen.
Bald schon saßen wir in der gemütlichen Stube, tranken Tee und aßen Zimtwaffeln mit Pflaumenmus, so ließ es sich leben! Alles war perfekt. Wir waren frisch gestärkt und freuten uns auf die letzten Kilometer in frischer Luft, gerade wollten wir aufbrechen, als wir merkwürdige, nordsee-untypische Geräusche vernahmen. Fernes Dröhnen, Maschinenlärm? Aber so viele und sich nähernd...Hubschrauber! entfuhr es uns und: KOHL! Er wird doch wohl nicht auch nach Amrum...?
„Na klar“ sagte der Wirt, „ und sogar direkt hierher! Er ist ja angekündigt für drei Uhr, ja wissen Sie das denn nicht?“
„Wie denn, wir kommen doch von Föhr!“ schrien wir und nun musste es schnell gehen. Blitzartig packten wir unsere Sachen zusammen, nur eine augenblicklich eingeleitete Flucht konnte uns jetzt noch retten, die Hubschrauber kamen immer näher, immerhin, noch waren sie in der Luft.
Wir stürzten ins Freie, und erkannten sofort, wie ausweglos die Lage war:
Hunderte von Menschen hatten sich bereits zusammengeschart, wie hatten wir vorhin die kleinen aber vielsagende Hinweise übersehen können! Auch von Hubschrauberlärm nichts mehr zu hören, dafür ein sich ausbreitendes Geraune, das die Menge durchströmte.
„Es hilft nichts“ sagte mein Vater und schaute noch einmal besorgt auf unsere Landkarte. „Da drüben geht’s lang.“
Und so drängten wir uns durch das immer aufgeregter werdende Volk, hastig und keinen Blick zur Seite wendend kämpften wir uns voran, „Da drüben der Weg, das muss er sein!“,
sagte mein Vater, es war nicht mehr weit, bald hätten wir es geschafft, wir würden es geschafft haben, ich sah ihn schon den Weg, er führte ins Freie, Menschenleere, doch in dem Moment, als ich das sah, sah ich auch IHN, den Kanzler, und ihn konnte man nicht übersehen.
Es war geschehen.
In einem, den Pöbel um Haupteslänge überragenden Pulk von Bodygards kam er uns entgegen, Hände schüttelnd, lachend, grinsend, polternd, Hände, Hände, ich sah nur noch Hände, winkende, fassende, streifende, klopfende und über allem dieses breit strahlende Gesicht, diese riesige Gestalt und diese entsetzliche Stimme, die ich nicht hören wollte, mein Vater zog mich weiter, aber es war schon geschehen:
„Ei, wo kommen Sie denn her?“ hatte Helmut Kohl den Mann gefragt, der eben noch neben mir gestanden hatte. Man kann seine Ohren nicht schließen wie die Augen.
Dann war der Spuk vorbei.
Der Weg den wir gingen war einsam und still, nur Bienen konnte man summen hören und ganz entfernt auch das Meer. Das Meer, dessen Geruch sich zwischen Gräsern und Blütenduft fast verlor.
Sommerferien! Wie alt war ich, vierzehn oder fünfzehn.
Meine Eltern hatten ein Ferienhäuschen gemietet auf Föhr, die Nordsee-Insel gleich zwischen Amrum und Sylt. Es waren schöne Ferien, wild gemischtes Wetter, Krabben, frisch vom Hafen, Milch, frisch vom Bauern, Butterkuchen, frisch vom Bäcker, noch immer duftet mir die Insel nach Wind und Gras, Salzwasser und Kühen, vor allem aber nach Tee und Teestuben, in die man sich nach langen Fahrradtouren rettete. Kandis, Sahne und Zimt lagen in der warmen Luft fast jeder Hütte die man gebückt betrat, die Reetdächer reichen dort ja schier bis zum Boden, die Türen findet man kaum, so wuchern die Rosen. ‚Schlumpfhausen’ dachten wir, als wir das erste Mal durch den kleinen Ort fuhren in dessen Nähe unser Haus lag.
Wenn wir nicht draußen unterwegs waren, verbrachte ich die meiste Zeit damit, im Haus zu sitzen und Würfeln zu üben. ‚Kniffel’ hieß das Spiel, ich war besessen von der Idee, besser als meine statistischen Chancen zu werden, die Würfel mir gefügig zu machen. Als dann beim Dorffest eine Bude stand, an der man Aale erwürfeln konnte, lachten meine Eltern und schickten mich hin. Ich zögerte nicht, ich war ja in Übung. Gewürfelt und –gewonnen! Nicht den dicksten, aber immerhin einen kleinen Räucheraal durfte ich mitnehmen.
Ferienfreude also, ungetrübt.
Eines Tages jedoch mussten wir erkennen, dass der die Republik immer heißer überrollende Bundestagswahlkampf auch vor unserem Ferienidyll nicht halt machen würde: Helmut Kohl lachte uns von jeder Litfass-Säule entgegen, sein Kommen war für den nächsten Tag angekündigt, die Insel würde toben.
Ein guter Tag, um einen Ausflug nach Amrum zu machen, beschlossen wir, denn der zu erwartende Trubel schreckte uns, und auch die Idee IHN zu treffen, und sei es nur zufällig und flüchtig war uns keineswegs lieb. So machten wir uns also an besagtem Tag sehr früh auf den Weg und folgten einer geleiteten Führung zu Fuß über das Watt zur Nachbarinsel Amrum, an deren Nordküste man schließlich wieder Land betrat. Dort, auf den Dünen machten wir eine Pause und sonnten uns ein wenig. Energie tanken für den Weg hinunter zur Südspitze, von wo aus uns ein Schiff wieder nach Föhr bringen würde.
So wanderten wir den ganzen Tag die Insel hinunter, wir waren fröhlich und guter Dinge. Nachmittags wurden wir müde und beschlossen, noch eine Rast einzulegen, es bot sich an, wir hatten grade einen kleinen Ort erreicht, und auch hier luden Teestuben ein, zu verweilen.
Bald schon saßen wir in der gemütlichen Stube, tranken Tee und aßen Zimtwaffeln mit Pflaumenmus, so ließ es sich leben! Alles war perfekt. Wir waren frisch gestärkt und freuten uns auf die letzten Kilometer in frischer Luft, gerade wollten wir aufbrechen, als wir merkwürdige, nordsee-untypische Geräusche vernahmen. Fernes Dröhnen, Maschinenlärm? Aber so viele und sich nähernd...Hubschrauber! entfuhr es uns und: KOHL! Er wird doch wohl nicht auch nach Amrum...?
„Na klar“ sagte der Wirt, „ und sogar direkt hierher! Er ist ja angekündigt für drei Uhr, ja wissen Sie das denn nicht?“
„Wie denn, wir kommen doch von Föhr!“ schrien wir und nun musste es schnell gehen. Blitzartig packten wir unsere Sachen zusammen, nur eine augenblicklich eingeleitete Flucht konnte uns jetzt noch retten, die Hubschrauber kamen immer näher, immerhin, noch waren sie in der Luft.
Wir stürzten ins Freie, und erkannten sofort, wie ausweglos die Lage war:
Hunderte von Menschen hatten sich bereits zusammengeschart, wie hatten wir vorhin die kleinen aber vielsagende Hinweise übersehen können! Auch von Hubschrauberlärm nichts mehr zu hören, dafür ein sich ausbreitendes Geraune, das die Menge durchströmte.
„Es hilft nichts“ sagte mein Vater und schaute noch einmal besorgt auf unsere Landkarte. „Da drüben geht’s lang.“
Und so drängten wir uns durch das immer aufgeregter werdende Volk, hastig und keinen Blick zur Seite wendend kämpften wir uns voran, „Da drüben der Weg, das muss er sein!“,
sagte mein Vater, es war nicht mehr weit, bald hätten wir es geschafft, wir würden es geschafft haben, ich sah ihn schon den Weg, er führte ins Freie, Menschenleere, doch in dem Moment, als ich das sah, sah ich auch IHN, den Kanzler, und ihn konnte man nicht übersehen.
Es war geschehen.
In einem, den Pöbel um Haupteslänge überragenden Pulk von Bodygards kam er uns entgegen, Hände schüttelnd, lachend, grinsend, polternd, Hände, Hände, ich sah nur noch Hände, winkende, fassende, streifende, klopfende und über allem dieses breit strahlende Gesicht, diese riesige Gestalt und diese entsetzliche Stimme, die ich nicht hören wollte, mein Vater zog mich weiter, aber es war schon geschehen:
„Ei, wo kommen Sie denn her?“ hatte Helmut Kohl den Mann gefragt, der eben noch neben mir gestanden hatte. Man kann seine Ohren nicht schließen wie die Augen.
Dann war der Spuk vorbei.
Der Weg den wir gingen war einsam und still, nur Bienen konnte man summen hören und ganz entfernt auch das Meer. Das Meer, dessen Geruch sich zwischen Gräsern und Blütenduft fast verlor.