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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Biermann, Wolf (Wolf Biermann, wirklich das?)



Herr Cohn
17.11.2001, 03:13
Nichts Böses ahnend ging ich heute Morgen über den Steindamm. Auf der einen Seite warteten wie sonst die Prostituierten, manche elend, manche noch nicht ganz so. Ich ging auf der anderen Seite, wo heute etwas die Sonne schien. Dort sind nicht die mittelschicken Businessmänner und die schmerbäuchigen Mittsechziger unter speckigen Hüten, Leute, über die ich ja nicht fallen will. Hinten in Richtung Hauptbahnhof leuchtete die Auslage eines dieser großen türkischen Gemüseläden immer heller als ich näher kam, melonengelb, gurkengrün, tomatenrot. Da standen viele Leute mit Einkaufstaschen und suchten sich ihr Obst aus, ich schlängelte mich durch - und dahinter passierte es. Ich war in Gedanken und achtete nicht sehr auf die Leute, aber das halbe und schludrige Hinsehen kann das allerekligste sein. Ein kleiner schmerbäuchiger Mann in einer speckigen Lederjacke scheeste mürrisch aus dem Ausgang des Gemüseladens und spie auf dem Gehweg in hohem Bogen aus. Ein wirklich hoher Bogen. Es war einer dieser Momente, wenn es einfach zu spät ist, den Blick gerade noch abzuwenden. Seine Spucke zerfaserte nicht in kleine Tröpfchen wie bei mir, wenn ich in hohem Bogen ausspeie, sondern landete so dick wie gespuckt auf dem Gehweg. Ich musste wirklich aufpassen, nicht in den Fleck hinein zu treten, eine schreckliche Sekunde lang, es war ein wirklich großer Fleck, und trotz meiner abgelenkten Aufmerksamkeit halluzinierte mein Gehirn mit Bildern vom Gesicht dieses Mannes. Das Walrossgesicht, der Schnauzbart, die Kugelaugen da. War mir, als hätte ich Elvis gesehen?, ich wünsche es mir so. Zehn, zwanzig Meter weiter ging's wieder und ich überlegte, ob ER es lieber doch nicht wäre, aber es waren schwierige Überlegungen, denn ich denke nie an Wolf Biermann und möchte auch keine Übung darin haben. Vielleicht hat die Hanelore welche, die Elstner, an die ich auch nie denke, die welche in muffiger Vergangenheit den Liedermacher coram publico so richtig heiß gemacht hat oder war es umgekehrt, ich weiß es nicht.
Später dachte ich an das große schwarzrote furchtbare Buch, das bei mir noch immer im Regal steht. Es heißt eigentlich 'Dos lid vunem ojsgehargetn jidischn volk' (Das Lied vom ausgemordeten jüdischen Volk) und ist von Jizchak Katzenelson, einem großen Dichter. Das heißt, das Buch wäre von Katzenelson, wenn es nicht von Biermann wäre. Der hat den jiddischen Text ins Deutsche übersetzt, er tat so als übersetzte er. Biermanns Titel fängt mit 'Großer Gesang' an und drinnen im Buch schwadroniert und fachsimpelt er, schreibt Zeug, spuckt, nutzt zärtlich kleine Worte ab und gibt sich zu erkennen. In jeder Zeile.
Jizchak Katzenelson wurde aus dem Warschauer Ghetto heraus geschmuggelt, kam in Frankreich wieder ins Lager, nach Vittel, wo er seine Verse in Lebensgefahr auf verschiedene Zettel kritzelte, sie in drei Flaschen packte und im Boden vergrub, bevor man ihn ins Lager Drancy transportierte, 'dort, wo man rechts rausgeht, bei dem sechsten Pfahl, der in der Mitte einen Vorsprung hat, unter der verzweigten Wurzel des alten Baumes' (Katzenelsons Leidensgefährtin, Miriam Novitsch). So konnten Katzenelsons Worte seinen Tod überleben. Die Zettel handeln vom Untergang des Warschauer Ghettos, vom Schreien, vom Zermahlenwerden, vom Tod seiner Kinder und dann bricht die Schrift ab. Am Ende hat man ihn in Auschwitz umgebracht.
'Sing. Nimm die hohle, ausgehöhlte Harfe. Qual durchpulst die dünnen Saiten... Wie soll ich singen, da die Welt verödet ist? Wie soll ich spielen? Mit gebrochner Fieberhand? Wo sind die Toten, Gott?...' (übersetzt von Hermann Adler)

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In der Zeitung stand, dass Biermann jetzt das irgendwievielte Jubiläum von irgendwas begehe und dafür plane er dies oder jenes Grmbrpf - schnell weiterblättern half auch nicht viel.

Bartholmy
17.11.2001, 03:21
'scheeste' - nie gehört, klingt aber knorke.
Dazu passen würde die Paparazzi-Geschichte (vergessen welche u. von wem?) in der ein Prominenter (war es G. John?) am Gemüsestand vor der Dusche, die automatisch über das Gemüse vom Markisensprenkler aus niedergeht gerettet wird.
Hätte ich solche Sprenkler je gesehen, und hätte ich Biermann sich darunter beugen sehen, - den hätte ich sicher nicht gewarnt.

Hilde
17.11.2001, 11:17
Bitte bitte nichts mehr über die Aule von Biermann und überhaupt über Aulen, und schon gar keine Assoziationsketten zu Gemüseständen herstellen.
Ich möchte heute noch Gemüse kaufen und hoffe, dass ich bis dahin den Gedanken losgeworden bin, verflixt noch mal, sonst brauch ich auch einen Sprenkler.
Lieber Herr Cohn, auch in anderen Strängen bitte nicht mehr auf den Boden spucken lassen, danke!

Herr Cohn
17.11.2001, 13:26
Hilde, 'Aule' ist ein prima Wort, hab's noch nie gehört, aber man weiß gleich, was es bedeutet!
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ceterum censeo: B. hat nicht nur ne Fresse, er ist eine.

Mariola Brillowska
17.11.2001, 14:50
Erstens, ja das war er bestimmt, weil seine Ex oder immernoch Frau Eva Maria nicht weit vom Steindamm wohnt, und zwar Ecke Graumannsweg und Armagardstraße. Sie habe ich auch auf der Post im Haupbahnhof gesehen, nette Oma, erkennt sie keiner. Von meinem Freund gegenüber kann man in ihre Wohnung reinschauen. Nina ist oft zu Besuch und der Ole Bierbauch. Er hat ein Jubiläum der Ausbürgerung. Gestern habe ich beim Arbeiten ein Radiobericht gehört über ihn. An sich interessant. Er wanderte als Westdeuscher in die DDR ein, um von dort aus rausgeschmissen, wegen... ach.
Ich halte den Steindamm da oben mit den Nutten für eine Art Zoo. Die Kerle gehen die gegenüberliegende Straßenseite entlang und gucken sich die Nutten aus, aber das sieht aus als wäre dazwischen ein unsichtbarer Zaun und die Nutten wäre Affen oder Papagaie, oder sonst welche schöne Tiere. Wegen der Anständigkeit gehe ich immer die Kerleseite entlang. Du bist schön und hast du Zeit zischt hinundher und ab und an wickst ein Dorftrottel zu den Auslagen, es ist ja umsonst. Die Gemüsehändler sind alle nicht besonders auf Qualitär aus. Aber man kann bei ihnen Rote Bete kaufen. Daraus eine blutige Suppe kochen. Lecker.

Tiffany Nudeldorf MD
17.11.2001, 15:08
Einen Radiobericht? - Seit etwa dem Tod von Thomas Brasch war Biermann ungefähr jeden Tag im Radio. Deutschlandsender, Deutschlandfunk, Deutschlandradio, Deutschlandantenne, Deutschlandwelle, Deutschlandkanal - alles voller Biermann, ersatzweise über Biermann. Uns wird er fehlen!

Fanny

Mariola Brillowska
17.11.2001, 18:08
Ja, gerade haben sie gesagt, er wohnt in Altona und hat die Hamburger Schule gegründet. Heute Abend spielt er in der Roten Flora, ein Soliabend für sich selbst.

Tiffany Nudeldorf MD
18.11.2001, 00:10
Ist die Rote Flora die Aule von Biermann ?

Ruebenkraut
18.11.2001, 13:01
Eben war er auf Phönix. hat grausam schlecht gesungen und geklmpft mit dicken Walrossfingern.
Habe gleich weitergezappt.

Herr Cohn
18.11.2001, 13:01
Ich kriege noch Paranoia. Seine Immernochex-Eva wohnt gleich bei mir um die Ecke? Er ist in Sendern, die ich höre? Auch auf Phoenix? Müsste man ihn da womöglich sehen müssen, meine Fresse.
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ceterum censeo: B. hat nicht nur ne Fresse, er ist eine
(Beitrag wurde von Herr Cohn am 18.11.2001 um 00:09 Uhr bearbeitet.)

Benzini
18.11.2001, 13:01
Benzini völlig fasziniert
wie Lempels Schöngeist punk-mutiert.
Das Cohn-Biermannsche Rumgespucke
die neue Charles-Bukowski-Tucke?

Klede
18.11.2001, 13:01
Stand da zwei mal 'Fresse' in Ihrem Beitrag, Herr Cohn? Die Rote Zora, Biermann, Radiosender, Phoenix. Zum Glueck hat's Benzini mir erklaert, ich war schon ziemlich ratlos.

Herr Cohn
19.11.2001, 04:11
K., wenn ich Sie mir so vorstelle - will man das? -, dann sehe ich so einen glänznasigen Pullunderträger aus Uelzen, der gern literarisch kritisiert, im Strange. Vielleicht in anderen, danke.
War Benzini nicht bereit
für Biermannwalross' Scheußlichkeit?
Und Mutationen, allerhand,
sind ihm nicht grade unbekannt.

Klede
19.11.2001, 04:54
Aber, aber Herr Cohn. Schon wieder den eigenen Strang hochgewuchtet, was? Da stand dann zweimal Biermann, ganz oben, ich wollt's nicht wahrhaben.
Ist die Verkuerzung meines Namens eine literarische Anspielung? Der glänznasige Pullunderträger aus Uelzen hat mir gut gefallen, aber ich will ja nicht literarisch kritisieren, im Strange. Vielleicht in anderen.
So, und jetzt stehen die beiden Biermanns nicht mehr nebeneinander.

Herr Cohn
20.11.2001, 03:16
...ich mag geschichten von gescheiterten. besonders, wenn sie aus sich heraustreten und sich beim scheitern selbst beobachten. das ist der trick. statt in selbstmitleid zu baden und die ungerechtigkeit der welt zu beklagen, schaut man sich einfach selber zu.
Sabeta
Sich beim Scheitern selbst beobachten! Aber Biermann macht daraus eine Wurstfingerei mehr. Gestern Abend auf der finsteren Autobahn kam er schon wieder im Radio, ich hörte zu, um den Widerwillen zum Wachbleiben zu nutzen. Diese Auspackerei! Der Mensch nahm eine beliebige Idee, marxistisch oder sonstwie schwammig, packte sie in eine laute Blase aus tremolierend spanischem Pathos und gierte darauf, dass die Zuhörer sie wieder auspackten. Vielleicht kann nur jemand 'aus sich heraustreten und sich beim Scheitern selbst beobachten', den das Scheitern schon immer beschäftigt hat, wie Woody Allen, über welchen Aporie eine wunderbare Geschichte geschrieben hat...

Paula Lavalle
21.11.2001, 22:26
so, jetzt packe ich mal meine intellektualität aus, ist nicht viel, sind wir auch gleich bei der sache: biermann, einer von den betroffenheitskünstler, die ich ja noch nie leiden konnte... und der in st. georg, wo ich von januar bis juni auch mein zuhause hatte... gut, dass ich da wieder weg bin, aber ich habe ja meine intellektualität ausgepackt, krawomm, da liegt sie auf dem tisch
und
rührt sich nicht. immer das gleiche getue. doch bei dem namen biermann habe ich immer das fernsehbild im kopf, auf der er in köln dieses legendäre konzert in den siebziger gibt, wohl der grund seiner ausbürgerung, jedenfalls bei dgbs und um ihn herum sitzend tausend betroffene menschen mit andachtsblick und solchen minen, dass solch ein mensch auf den gehweg rotzt, hätte ich nie gedacht.
ich bin enttäuscht.
roger willemsen ist der biermann der neunziger. in zwanzig jahren wird der auch auf den gehsteig rotzen, aber dann werde ich nicht enttäuscht sein, sondern werde es kommen gesehen haben...

Paula Lavalle
21.11.2001, 23:28
will sagen: bin von herrn biermann-willemsen enttäuscht, nicht von dem cohn

Herr Cohn
21.11.2001, 23:31
Ausbürgerung ist überhaupt DAS Stichwort, geehrte Paula. Zumindest dieses Detail der DDR sollte man mit milderen Augen sehen. Willemsen! Henryk Broder hat sich auf seiner Website schon auf ihn eingeschossen, sehr schön zu lesen. Da sieht man ihn gehen, den betroffenen Ästheten.

Paula Lavalle
21.11.2001, 23:36
ich fand den satz von frau buschheuer immer ganz nett, die beschreibung mit den schamhaaren... früher fand ich den willemsen ja gut, als ich noch betroffen war und nicht wusste, wie herrrrrrlich sex sein kann - zum beispiel, oder wie hilfreich enthaarungscreme, oder wie wenig förderlich rabattmarken von aral, oder wie zickig eine aldikassiererin, oder welch ein krampf es wird, wenn der knopf am fernseher kaputt ist, mit dem man die programme durchschaltet, damals, vor all diesen bahnbrechenden erkenntnissen, war ich, glaube ich, heimlich in roger willemsen verliebt.
ich biermann nie. den fand ich schon immer schlimm. ganz schlimm.

Herr Cohn
21.11.2001, 23:43
Toll wie Sie das machen, ich habe gerade überlegt, was schreib ich jetzt über öde-Willi und dieses 'ich habe stünd-lich Sex', nein, Sie haben's getroffen!
(Beitrag wurde von Herr Cohn am 21.11.2001 um 22:44 Uhr bearbeitet.)

Stimmen
22.11.2001, 00:15
Ich finde Willemsen gut. Und das sage ich hauptsächlich, um Paula eins mitzugeben.

Paula Lavalle
22.11.2001, 00:34
ja, mein gott, stimmen, manche mögen es halt bizarr. sie sollten aber stets offen und ehrlich über ihre neigungen und sehnsüchte sprechen. und mit roger lässt sich doch bestimmt was arrangieren. ich habe schon vier rabattmarken von aral.

Babs
28.11.2001, 12:11
Biermann ist mir in Erinnerung als einer,
der seine Ex (Eva-Maria) als 'Blechfotze'
tituliert, öffentlicherweise.
Das sagt mir dann auch schon alles was
ich wissen muss über ihn.
Widerlich. Barb.

Tiffany Nudeldorf MD
28.11.2001, 12:37
Ich war der Mann einer Bierdose.
- kenne ich noch, die Reklame.

Reno Schmittchen
29.11.2001, 01:19
Mich erinnert Biermann immer an Willi Millowitsch, ich glaube, wegen dieses affektierten Kieksens in der Stimme, das hatte der auch. Wobei mir Millowitsch selbst in Filmen mit Vico Torriani sympathischer ist als Biermann in egalwas.

Herr Cohn
29.11.2001, 01:19
Millowitsch fand Biermannen vermutlich ziemlich grässlich, wenn überhaupt. Das spricht für ihn. Rheinländer wissen, wann das Karnevalshossa zuende sein muss.