Peter Bean
07.11.2001, 13:11
Als ich ein Kind war und nicht wusste was Luxus ist, weil in der sozialistisch befohlenen Heimat Luxus gleichgesetzt wurde mit Bourgeoisie, mit Verfall und kapitalistischer Fäulnis, als ich also ein Kind war, überkam mich unerwartet ein Hauch von Luxus. Ich konnte damit natürlich nichts anfangen, erstens weil ich ein Kind war, und zweitens weil ich ein ostdeutsches Kind war. Und in diese Erfahrung von Luxus platzte gleich dazu die Erkenntnis, dass Luxus auch ein Bestandteil des real existierenden Sozialismus war - eine klassische Form von Doppeldenk also.
Der Bruder meiner Mutter und der Bruder meines Vaters haben etwas gemeinsam. Beide taten zur rechten Zeit das Richtige: Sie kehrten der Wärme und Geborgenheit ihres Heimatlandes kühl den Rücken, der eine kurz vor- und der andere kurz nach Stalins Tod. Meine Eltern taten das nicht und wenn ich sie heute ganz entspannt danach frage, warum sie von ihren Kinobesuchen in Westberlin immer wieder zurückkehrten, bis die Kinos in Westberlin für sie plötzlich mit einer unfreiwilligen Altersbeschränkung (FSK 60) belegt wurden, antworten sie meistens mit einer Gegenfrage, ob ich eine schlechte Kindheit gehabt hätte. Nein, muss ich dann eingestehen, hatte ich nicht. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich hatte ja auch zwei Onkels im Westen, die mich immer mit Jeans und Lego eindeckten, meine Eltern mit Kaffee versorgten und in den späten Sechzigern mir und meinem Bruder durch illegale Medikamentenschmuggel ein gesundes Weiterleben im Sozialismus ermöglichten. Ich trage meinen Eltern nichts nach - warum auch? Als ich achtzehn wurde, stellte ich auch keinen Ausreiseantrag und war sogar Seminarleiter im FDJ-Studienjahr.
Aber als ich dreizehn war, hatte einer meiner Onkels eine tolle Idee: Er lud uns etwas großmäulig, wie Westonkels so waren, nach Berlin ein und spendierte der ganzen Familie ein Wochenende im Palasthotel am Dom. Das war eigentlich gar nicht möglich, denn das Palasthotel war ein Valuta Hotel. Man konnte dort nur mit harter Deutscher Mark bezahlen, was mein Onkel natürlich übernahm. Und da standen wir Ossis nun in der großen, von Schweden und Finnen erbauten Empfangshalle und fühlten uns in etwa so, wie frisch eingefangene Paviane im Hagenbeck. Natürlich trat uns das Billige, das typisch Ostdeutsche, diese Mischung aus Trotz und Devotheit aus allen Poren. Besonders die karierten Stoffkoffer meiner Eltern fand ich damals schon ziemlich daneben. Aber mein Vater ist ein Pragmatiker.
Wir wurden auch nicht wie Hotelgäste behandelt, sondern wie ostdeutsche Hotelgäste. Wir bekamen auf unseren Hotelausweis ein 'DDR' geschrieben, das uns im Zweifel sofort identifiziert hätte, wenn wir die Bowlingbahn oder das Schwinmmbad hätten benutzen wollen. Das durften wir zwar, aber nur EINMAL am Tag. Also gut einteilen! Ich glaube bis heute nicht, dass sich ein Gast aus dem Westen hätte vorschreiben lassen, wie oft er das hoteleigene Schwimmbad benutzt. Aber bei uns tat dieser dezente Hinweis seine Wirkung: Wir liessen es ganz bleiben. Die Zimmer waren nett und im Westfernsehen lief 'Convoy'. Westfernsehen war für mich wie Urlaub, denn nur im Sommerurlaub in Wandlitzsee konnten wir westfernsehen, wir östlichsten aller Ostdeutschen.
In der Hotellobby gab es eine Bar mit einem echten Barkeeper. Dort konnte man Drinks bestellen und bekam die auch, auch als Ostdeutscher, ich glaube sogar gegen Aluminiumgeld. Und dort bekam ich auch meinen ersten Daiquiri mit Zuckerrand, spendiert von - meinem Onkel. Und dann geschah etwas, was mich bis heute stolz macht: Ich sah eine berühmte Person an dieser Bar sitzen, die mein Onkel, der Weltbürger, nicht kannte. Es war Erwin Geschonneck - ein DEFA-Star (Das Kalte Herz, Karbid und Sauerampfer, Jacob der Lügner, Nackt unter Wölfen), der einen Brandy nach dem anderen inhalierte. Dabei redete er abwechselnd mit sich selbst oder beschimpfte den Barkeeper. An seiner Seite war eine junge blonde Frau, von der ich bis heute nicht mehr weiss, als dass sie jung und blond war.
Ich war vollkommen paralysiert: Ein echter Filmstar und ein ostdeutscher Junge aus der Provinz. Mein Herzlein pochte wie wild und ich überwand mich schliesslich, zu ihm zu gehen und ihn um ein Autogramm zu bitten. Ich war damals sehr klein - eine Wachstumsstörung, deren erfolgreiche Behandlung ich ebenfalls diesem Onkel verdanke - und Erwin Geschonneck drehte seinen besoffenen Kopf zur Seite und sah nach unten auf mich herab. Das war ich ja in diesem Hotel gewöhnt und ausserdem war er ein STAR und ich ein Kind. Er sah schrecklich aus, alt und verfallen, wie ein Greis und es schockierte mich (diese Grunderkenntnis in Bezug auf Prominente sollte sich irgendwann wiederholen). Ich fragte ihn also, ob er mir ein Autogramm geben würde und reichte ihm meinen Hotelausweis mit dem 'DDR' drauf. Er nahm ihn wortlos und guckte wie gebannt drauf. Jetzt könnte ich ihn gut lallen lassen: 'Wie kommst du denn hier rein?' Aber das tat er nicht. Er krakelte seinen Namen auf die Pappe und gab sie mir wortlos zurück. Kein Kommentar, kein Lächeln. Fühlte er sich ertappt, er, der so viele standhafte Kommunisten darstellte, in dieser Bar, brandysaufend und den Verfall förmlich verkörpernd, angetroffen zu werden? Damals wusste ich noch nicht, dass es nicht nur ein verfall des Mannes Geschonneck war, sondern es war der Verfall des ganzen Hotels, des ganzen Gebildes, das auf märkischen Sand und Stalin gebaut war und auf sonst nichts (Zitat). Damals war ich ein kleiner Kerl, der sich ein drittes Loch in den Bauch freute, einen echten Star getroffen zu haben.
Am Abend gingen wir alle zusammen essen, natürlich ohne Erwin Geschonneck, in die hoteleigene französische Gaststätte 'Rotte d«Or' (sorry, ich kann kein Französisch, es sollte Goldhöhle heissen). Die Kellnerin erkannte natürlich sofort unsere ostdeutsche Herkunft und stürmte auf uns zu: 'Entschuldigen Sie, aber Sie wissen, dass das ein D-Mark-Restaurant ist?' Die Art und Weise, wie mein etwas großkotziger Onkel die Frau fertig machte, erzeugte in mir einerseits Schadenfreude, andererseits tat es mir leid, dass ihr die Tränen kamen. Ich ass gedünstete Jacobsmuscheln und meine Eltern tranken irgendeinen edlen Wein, den mein Onkel unbedingt bestellen wollte und in dessen Namen irgend etwas mit Rothschild vorkam.
Dieser ganze Hotelbesuch hatte etwas Surreales. Es war surreal zu sehen, wie Erwin Geschonneck, gestützt auf die Blondine, davon torkelte. Es machte etwas kaputt in mir, wie ich behandelt wurde von all diesen großmäuligen Berliner Lakaien und wie meine Eltern behandelt wurden, die ihr Leben lang wie blöd geschuftet hatten, damit im Ministerium für Wahrheit der Plan als erfüllt galt. Zu allem Übel musste ich den Hotelausweis beim Verlassen des Hotels wieder abgeben. Vielleicht hätte ich sagen sollen, dass ich ihn verloren habe, aber so selbstbewusst war ich damals noch nicht.
Erwin Geschonneck existiert heute noch, im Gegensatz zum Palasthotel. Und ich kann inzwischen, wenn ich will, in alle Hotels der Welt einchecken und die Kellnerinnen beschimpfen. Wenn ich will!
(Beitrag wurde von Peter Bean am 07.11.2001 um 12:32 Uhr bearbeitet.)
Der Bruder meiner Mutter und der Bruder meines Vaters haben etwas gemeinsam. Beide taten zur rechten Zeit das Richtige: Sie kehrten der Wärme und Geborgenheit ihres Heimatlandes kühl den Rücken, der eine kurz vor- und der andere kurz nach Stalins Tod. Meine Eltern taten das nicht und wenn ich sie heute ganz entspannt danach frage, warum sie von ihren Kinobesuchen in Westberlin immer wieder zurückkehrten, bis die Kinos in Westberlin für sie plötzlich mit einer unfreiwilligen Altersbeschränkung (FSK 60) belegt wurden, antworten sie meistens mit einer Gegenfrage, ob ich eine schlechte Kindheit gehabt hätte. Nein, muss ich dann eingestehen, hatte ich nicht. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich hatte ja auch zwei Onkels im Westen, die mich immer mit Jeans und Lego eindeckten, meine Eltern mit Kaffee versorgten und in den späten Sechzigern mir und meinem Bruder durch illegale Medikamentenschmuggel ein gesundes Weiterleben im Sozialismus ermöglichten. Ich trage meinen Eltern nichts nach - warum auch? Als ich achtzehn wurde, stellte ich auch keinen Ausreiseantrag und war sogar Seminarleiter im FDJ-Studienjahr.
Aber als ich dreizehn war, hatte einer meiner Onkels eine tolle Idee: Er lud uns etwas großmäulig, wie Westonkels so waren, nach Berlin ein und spendierte der ganzen Familie ein Wochenende im Palasthotel am Dom. Das war eigentlich gar nicht möglich, denn das Palasthotel war ein Valuta Hotel. Man konnte dort nur mit harter Deutscher Mark bezahlen, was mein Onkel natürlich übernahm. Und da standen wir Ossis nun in der großen, von Schweden und Finnen erbauten Empfangshalle und fühlten uns in etwa so, wie frisch eingefangene Paviane im Hagenbeck. Natürlich trat uns das Billige, das typisch Ostdeutsche, diese Mischung aus Trotz und Devotheit aus allen Poren. Besonders die karierten Stoffkoffer meiner Eltern fand ich damals schon ziemlich daneben. Aber mein Vater ist ein Pragmatiker.
Wir wurden auch nicht wie Hotelgäste behandelt, sondern wie ostdeutsche Hotelgäste. Wir bekamen auf unseren Hotelausweis ein 'DDR' geschrieben, das uns im Zweifel sofort identifiziert hätte, wenn wir die Bowlingbahn oder das Schwinmmbad hätten benutzen wollen. Das durften wir zwar, aber nur EINMAL am Tag. Also gut einteilen! Ich glaube bis heute nicht, dass sich ein Gast aus dem Westen hätte vorschreiben lassen, wie oft er das hoteleigene Schwimmbad benutzt. Aber bei uns tat dieser dezente Hinweis seine Wirkung: Wir liessen es ganz bleiben. Die Zimmer waren nett und im Westfernsehen lief 'Convoy'. Westfernsehen war für mich wie Urlaub, denn nur im Sommerurlaub in Wandlitzsee konnten wir westfernsehen, wir östlichsten aller Ostdeutschen.
In der Hotellobby gab es eine Bar mit einem echten Barkeeper. Dort konnte man Drinks bestellen und bekam die auch, auch als Ostdeutscher, ich glaube sogar gegen Aluminiumgeld. Und dort bekam ich auch meinen ersten Daiquiri mit Zuckerrand, spendiert von - meinem Onkel. Und dann geschah etwas, was mich bis heute stolz macht: Ich sah eine berühmte Person an dieser Bar sitzen, die mein Onkel, der Weltbürger, nicht kannte. Es war Erwin Geschonneck - ein DEFA-Star (Das Kalte Herz, Karbid und Sauerampfer, Jacob der Lügner, Nackt unter Wölfen), der einen Brandy nach dem anderen inhalierte. Dabei redete er abwechselnd mit sich selbst oder beschimpfte den Barkeeper. An seiner Seite war eine junge blonde Frau, von der ich bis heute nicht mehr weiss, als dass sie jung und blond war.
Ich war vollkommen paralysiert: Ein echter Filmstar und ein ostdeutscher Junge aus der Provinz. Mein Herzlein pochte wie wild und ich überwand mich schliesslich, zu ihm zu gehen und ihn um ein Autogramm zu bitten. Ich war damals sehr klein - eine Wachstumsstörung, deren erfolgreiche Behandlung ich ebenfalls diesem Onkel verdanke - und Erwin Geschonneck drehte seinen besoffenen Kopf zur Seite und sah nach unten auf mich herab. Das war ich ja in diesem Hotel gewöhnt und ausserdem war er ein STAR und ich ein Kind. Er sah schrecklich aus, alt und verfallen, wie ein Greis und es schockierte mich (diese Grunderkenntnis in Bezug auf Prominente sollte sich irgendwann wiederholen). Ich fragte ihn also, ob er mir ein Autogramm geben würde und reichte ihm meinen Hotelausweis mit dem 'DDR' drauf. Er nahm ihn wortlos und guckte wie gebannt drauf. Jetzt könnte ich ihn gut lallen lassen: 'Wie kommst du denn hier rein?' Aber das tat er nicht. Er krakelte seinen Namen auf die Pappe und gab sie mir wortlos zurück. Kein Kommentar, kein Lächeln. Fühlte er sich ertappt, er, der so viele standhafte Kommunisten darstellte, in dieser Bar, brandysaufend und den Verfall förmlich verkörpernd, angetroffen zu werden? Damals wusste ich noch nicht, dass es nicht nur ein verfall des Mannes Geschonneck war, sondern es war der Verfall des ganzen Hotels, des ganzen Gebildes, das auf märkischen Sand und Stalin gebaut war und auf sonst nichts (Zitat). Damals war ich ein kleiner Kerl, der sich ein drittes Loch in den Bauch freute, einen echten Star getroffen zu haben.
Am Abend gingen wir alle zusammen essen, natürlich ohne Erwin Geschonneck, in die hoteleigene französische Gaststätte 'Rotte d«Or' (sorry, ich kann kein Französisch, es sollte Goldhöhle heissen). Die Kellnerin erkannte natürlich sofort unsere ostdeutsche Herkunft und stürmte auf uns zu: 'Entschuldigen Sie, aber Sie wissen, dass das ein D-Mark-Restaurant ist?' Die Art und Weise, wie mein etwas großkotziger Onkel die Frau fertig machte, erzeugte in mir einerseits Schadenfreude, andererseits tat es mir leid, dass ihr die Tränen kamen. Ich ass gedünstete Jacobsmuscheln und meine Eltern tranken irgendeinen edlen Wein, den mein Onkel unbedingt bestellen wollte und in dessen Namen irgend etwas mit Rothschild vorkam.
Dieser ganze Hotelbesuch hatte etwas Surreales. Es war surreal zu sehen, wie Erwin Geschonneck, gestützt auf die Blondine, davon torkelte. Es machte etwas kaputt in mir, wie ich behandelt wurde von all diesen großmäuligen Berliner Lakaien und wie meine Eltern behandelt wurden, die ihr Leben lang wie blöd geschuftet hatten, damit im Ministerium für Wahrheit der Plan als erfüllt galt. Zu allem Übel musste ich den Hotelausweis beim Verlassen des Hotels wieder abgeben. Vielleicht hätte ich sagen sollen, dass ich ihn verloren habe, aber so selbstbewusst war ich damals noch nicht.
Erwin Geschonneck existiert heute noch, im Gegensatz zum Palasthotel. Und ich kann inzwischen, wenn ich will, in alle Hotels der Welt einchecken und die Kellnerinnen beschimpfen. Wenn ich will!
(Beitrag wurde von Peter Bean am 07.11.2001 um 12:32 Uhr bearbeitet.)