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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Frisch, Max (in Manhattan)



Aporie
01.11.2001, 20:43
In den ausklingenden siebziger Jahren, also in der vorgiulianischen Zeit, war New York eine Art Moskau der neunziger Jahre. Hinter jeder Ecke konnte ein Räuber lauern, die Damen aus der Park Avenue ketteten sich an ihre Handtäschchen, immer mehr Passagiere konnten die U-Bahn nur mit einem Messer im Rücken verlassen, selbst im Taxi musste man damit rechnen, auf offener Straße angehalten und ausgeraubt zu werden, während mitten auf den von hippen Läden gesäumten Gehsteigen und auf den Abzugsrosten der U-Bahn Penner und Junkies lagerten, unbeachtet von den Passanten, die mit routiniert abgewandtem Blick vorbeihasteten.
In eben dieser Zeit war ich das erste Mal in meinem Leben in New York, und auf meinen ausgedehnten Stadtwanderungen durchquerte ich das mit allerhand Gefahren aufgeladene Klima einer Weltstadt, die in sich selbst zu versinken drohte, mit kontrolliertem Schrecken. Eines Morgens verließ ich mein Hotel in der Nähe des Central Parks Richtung Penn-Central-Station. Ich wollte zum Madison Square Garden und hatte auf der Seventh Avenue gerade den Broadway überquert. Trotz Bahnhofsnähe wurde der Gehsteig nun übersichtlicher, und plötzlich sah ich in einer Entfernung von gut fünfzig Metern einen Mann mit einer Pfeife im Mund auf die Taxikolonne vor der Penn-Central-Station zugehen. Da er auf dem Weg zum vordersten Taxi war, kam er mir ein Stück weit entgegen, und plötzlich dachte ich: Da ist ja Max Frisch.
An dieser Stelle ein kleiner Einschub. Möglicherweise wird man mich jetzt wegen Reglementsverstoss auf den Kopf hauen, weil ich nämlich Max Frisch bereits kannte und auch er mich ein bißchen kannte, freilich nicht so, dass er meinetwegen durchgedreht hätte, wenn ich vor seinen Augen in ein New Yorker Taxi eingestiegen wäre. Auch hatte ich die Begegnung mit Max Frisch vor der Penn-Central- Station nur insofern willentlich herbeigeführt, als ich dem spontanen Impuls folgte, sofort loszuspurten, um ihn noch vor dem ersten Taxi abzufangen. Das gelang leider nicht ganz, denn ich war noch gute zwanzig Meter von ihm entfernt, als er das Taxi erreicht hatte und einstieg.
Ich geriet nun mitten im Lauf in einen Widerstreit. Ein Teil meiner selbst gebot mir, im Laufen einzuhalten, Frisch Frisch sein zu lassen und meinen Weg zum Madison Square Garden nur mit der Erinnerung fortzusetzen, in New York beinahe Max Frisch begegnet zu sein. Der andere Teil spornte mich zu einer ultimativen Höchstleistung an. Dieser Teil siegte, die aufkeimende Beschämung, Max Frisch mit meiner nun folgenden Handlungsweise zu erschrecken, nahm ich als Kollateralschaden in Kauf.
Nun muß man wissen, dass ein höfliches Paparazzentum damals noch so unvorstellbar schien wie heute die Bekehrung Bin Ladens zum Christentum. Deshalb galt Pappen klatschen nicht wie in unserer Zeit als eine bloß welfische Verirrung; jedermann der konnte, langte zu, besonders kräftig Richard Burton, Norman Mailer und Helmut Berger.
Das Pappenhafte meines Handelns war mir nicht einmal bewußt, aber meine Bedenken wuchsen, je näher ich an das Taxi heran kam. War das wirklich richtig, was ich hier tat?
Ich stoppte meinen Lauf. Denn mittlerweile stand das Taxi vor mir, auf dem Rücksitz der ahnungslos Passagier Max Frisch.
Wie gerne wäre ich nun mit angemessener Behutsamkeit wenigstens die letzten Schritte auf Zehenspitzen gegangen, die Knie dabei naiv angehoben. Aber da sah ich, dass der Wagen sich in Bewegung setzte. Ich war nun blindwütig entschlossen, mein Letztes zu geben. Da musste ich durch.
Frisch hatte ja eine Augenkrankheit, deren Auswirkung man heute nur noch an Kirch studieren kann, eine asiatisierende Verengung der Augen, Hängelider und hochgewuchtete Brauen, was zu einem sich keine Pause gönnenden authentisch blasierten Gesichtsausdruck führt. Den behielt er auch noch bei, als ich nach der Türfalle schnappte - die Tür öffnete sich dann von selbst, da das Taxi ja bereits in Bewegung war - aber als er mich dann erblickte (ich schäme mich, es zu sagen), sah ich Max Frisch zum ersten Mal mit geweiteten Augen,
Unsere Blicke trafen sich und hefteten sich sofort laserfest aneinander; ich versuchte ihm mit meinem Blick zu sagen, wie groß meine Freude wäre, ein bekanntes Gesicht aus der Schweiz unverhofft in New York anzutreffen, während sein Blick mir sagte: ³Richten Sie bitte keine Waffe auf mich, Sie können alles von mir haben, meine Armbanduhr, meine Pfeife, meine Brille, aber kein Geld, denn ich zahle in diesem Land ausschließlich mit Master Card und American Express.'
Für einen Moment fehlte uns beiden die Sprache, nach dem 50-Meter-Lauf war mein Mund eine Weile lang einzig zum Atmen zu gebrauchen, während im seinen noch immer die Pfeife steckte. Erst als ich seinen Namen nannte und den meinen zur Sicherheit hinterherschob, fand sein Gesicht wieder zurück in die Frischsche Blasiertheit. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte baff ³Wo chömed Sie dänn her?' Eine Frage, die nicht mehr bedeutet, als die verbale Verlängerung einer Schrecksekunde und auch, wie man weiss, nicht befriedigend beantwortet werden kann.
Ich warf einen kurzen Blick auf den Fahrer, der seinerseits vor einer Eskalation auf dem Rücksitz durch eine Trennscheibe geschützt war. Bis auf eine extrem fluktuierende Blinzelfrequenz konnte ich an ihm nichts Auffälliges beobachten.
Die paar Sätze , die ich schließlich hochroten Kopfes mit Frisch wechselte, bevor ich die Tür zart ins Schloß fallen ließ, habe ich nicht mehr in Erinnerung. Der Fahrer blickte unschlüssig blinzelnd Frisch an, Frisch blickte auf die Uhr. Er schien in Eile zu sein. Schliesslich gab er mir seine Karte, mit der Empfehlung, ihn doch in den nächsten Tagen anzurufen. Er hatte damals noch sein Appartement in New York.
Das Taxi fuhr wieder an, Frisch winkte, in der Winkhand die Pfeife, und ich setzte meinen Weg nach dem Madison Square Garden fort. Freuden- und Schamröte huschten wechselweise über mein Gesicht wie der Lichtschein einer monochromen Verkehrsampel. Jedenfalls habe ich dann Max Frisch nicht angerufen, weil ich nicht ein zweites Mal aufdringlich sein wollte.

Das nächste Mal sah ich ihn erst einige Jahre später wieder. Es war ein sonniger Februartag, als er aus der Stadelhofen-Passage kam , wo er in seinen letzten Jahren wohnte; seine Schritte wirkten müde, und die Pfeife hatte er nicht dabei. Vor dem südländisch wirkenden Kiosk, der sich damals noch in dem kleinen Park gegenüber dem Bahnhof befand, kaufte er eine Zeitung. Ich stand auf der anderen Seite der Straße, Frisch guckte nicht in meine Richtung, sondern warf einen blasierten Blick auf die Schlagzeilen der entfalteten NZZ. Er war merklich gealtert, trug aber blaue Jeans zu einem ebenfalls blauen Jeanshemd, und seine weiße Haare waren länger als früher. Ich überlegte, ob ich auf ihn zugehen wollte, ließ es dann aber, was mir später noch sehr leid tun sollte.

Zwei Monate später starb er. Ich war dann noch an der Abdankung (Helvetizismus für Trauerfeier) in der Kirche St. Peter, deren Fassaden sie kurz zuvor hellblau angemalt hatten, was ihm wohl nur ein blasiertes Lächeln abgerungen hätte.
Als ich am Sarg vorbei ging, verspürte ich ein Jucken in den Fingern. Wie gerne hätte ich unversehens den Deckel geöffnet und Max Frisch herausgeholt aus diesem Taxi in die Ewigkeit.














(Beitrag wurde von Aporie am 01.11.2001 um 23:56 Uhr bearbeitet.)

Lilaxista
01.11.2001, 21:08
Im Taxi auf offener Straße ausgeraubt zu werden, das muss einem erstmal passieren. Grandios!
Und dieser Schluss...Aporie, ein Leckerbissen. (Verzeihung: Leckerli!)
Stimmt es übrigens, dass Max Frisch Volker Schlöndorff sein altes Auto vermacht hat?
(Beitrag wurde von Lilaxista am 02.11.2001 um 17:11 Uhr bearbeitet.)

Bartholmy
02.11.2001, 00:43
Eine schöne Geschichte. Ohne die etwas zu zahlreichen Bonmotversuche wäre sie wahrscheinlich nicht nur kürzer, sondern auch noch schöner.
Gut gefiel mir allerdings das Wortspiel 'in der vorgiulianischen Zeit' - aber trotzdem, es zeigt sich wieder mal: höflich paparazzen rult, smarte Bemerkungen machen wollen kommt hingegen weniger gut.
Trotzdem, über originelle Teilsätze lässt sich locker weglesen. Und der Rest ist schön, sehr schön.

Aporie
02.11.2001, 01:21
caradiert
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Vergeblich habe ich diese Dinge zu früh gesehen (Galileo Galilei)


(Beitrag wurde von Aporie am 03.11.2001 um 23:26 Uhr bearbeitet.)

rron
02.11.2001, 01:28
Die Geschichte ist wirklich sehr schön, allen Respekt, aber, wenn ich Bartholmy noch etwas hinzufügen könnte, wäre es, dass durch das forumsreferentielle Element ('Paparazzentum', 'Pappen klatschen', etc.), eine leicht anbiedernd schleimige Stimmung den Beitrag durchzieht.

DerCaptain
02.11.2001, 01:54
Jezz hört doch mal auf. Das ist eine schöne Geschichte, diese Mäkeleien, dies & das ist nicht schön oder edel oder toll, ich kanns nicht mehr hören. Lasst uns doch bitte mal etwas toleranter werdewn, bitte!
Wo haben wir denn angefangen?
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the only thing that looks good on me is you

vir
02.11.2001, 11:48
Exquisite Geschichte, tadelllos erzählt, finde ich*.
Deshalb ist es auch verständlich, dass die Kritiker hier Massstäbe anlegen, die den hohen Erwartungen die man an Aporie stellt gerecht werden wollen.
Aber trotzdem: Wenn 'Eitelkeit' ein legitimer literarischer Vorwurf wäre müsste es hier von Verrissen nur so hageln. Ich wäre eins der ersten Opfer.
*detaillierte Begründung auf Anfrage

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Omnia vincit amor

DREA
02.11.2001, 12:03
Angesichts strengen und arroganten Worte, die Aporie so gerne unter anderleuts Beitraege setzt, waere ein wenig maekelnde 'Revanche' nur zu verstaendlich. Bis auf Bartholmy's Einwaende gibt's aber nichts meckern. Gute Geschichte (so leid's mir tut)! Glatte 2.

Ignaz Wrobel
02.11.2001, 12:06
Als Amöben in der Ursuppe.
Eine schöne, aufwendige Geschichte des Scheiterns, man merkt, daß der Herr Aporie ein kundiger Kritiker ist, und als solcher natürlich alles tadellos machen möchte, was ja großenteils auch gelungen ist, manchmal auch etwas übers Ziel hinausschießt.
Also ein introvertierter Schweizer versucht einen anderen introvertierten Schweizer anzusprechen, logischerweise kein ganz leichtes Unterfangen. Immerhin, einmal ist es gelungen, 'Wo chömmet Sie dänn her?' und winken mit der Pfeife.
Ich stelle mir Aporie ein bischen wie Max Frisch vor, jedenfalls auch mit Pfeife. Welcher Art war denn die flüchtige Bekanntschaft gewesen? Und hatte Frisch eigentlich auch so eine doofe Witwe wie der Dürrenmatt, die ihn nachher ins Lächerliche gezogen hat (gewissermaßen als Intimpaparazza)?

Ignaz Wrobel
02.11.2001, 12:09
Bezog sich auf des Captains Frage, die Amöben.

vir
02.11.2001, 12:14
bezogEN

vir
02.11.2001, 12:47
So, jetzt herrscht wieder ein bisschen Ordnung.

Aporie
02.11.2001, 12:48
Frisch fuhr, seit ich ihn kannte, immer Jaguar, Frau Lilaxista. Aber als er noch Architekt war, ja ich glaube sogar bis er mit dem Stückeschreiben begann, fuhr er Fahrrad. Es gibt da ein Bild von ihm mit Brecht. Frisch zeigt Brecht einen Plan des öffentliches Schwimmbads, das er nach dem Krieg in Zürich gebaut hat. Brecht macht dabei zu Recht eine völlig inkompetente Miene. Da das Foto eine Totale der beiden, soweit mir erinnerlich, sogar auf dem Gelände der Baustelle zeigt, sieht man deutlich Frischs Fahrradklammern, die er stolz wie zwei Hosenbandorden trägt.
Frisch war, nun ja, eher etwas geizig. Ich denke, dass er jeweils den alten Jaguar gegen einen neuen in Zahlung gab, so dass nicht anzunehmen ist, dass Volker Schlöndorf jemals einen Jaguar von Frisch geschenkt bekam. Allerdings, das fällt mir jetzt eben gerade so ein, hatte er immer Mühe die breite Karre über das schmale Schlingersträsschen nach Berzona zu fahren, wo er meist wohnte, nachdem er seine junge Frau Marianne dazu überreden konnte, von Berlin wegzuziehen. Einmal stieß er mit dem Postauto zusammen. Jetzt könnte es ja sein, dass er nachher von Jaguaren genug hatte und Volker Schlöndorf den Unfallwagen schenkte.
Oder meinen Sie mit ³vermacht' wirklich, dass in Frischs Testament stand: '1 Jaguar an Volker Schlöndorf'?

DerCaptain
02.11.2001, 12:58
nachdem er seine junge Frau Marianne dazu überreden konnte, von Berlin wegzuziehen.

Im Ernst?! Frischs Frau Marianne aus Berlin? Potzblitz!
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standard disclaimer: Ich finde das neue Forum gut und habe unseren Hausmeister lieb.

Lilaxista
03.11.2001, 01:23
Ein Jaguar, ja Aporie, es muss der Jaguar gewesen sein. Leider kann ich mir keine Automarken merken, aber ich hörte Volker Schlöndorff in einer Forumsdiskussion ganz stolz davon erzählen, dass Frisch ihm kurz vor seinem Tode ein sehr altes (zum Langsamfahren und Eindruckschinden jedoch bestens geeignetes) Auto vermacht hat. Es muss dieser Jaguar gewesen sein. Die beiden hatten zu dieser Zeit wohl ein inniges Verhältnis, Dreharbeiten zu Homo Faber. Schlöndorff erzählte darüber hinaus, dass Sam Shepard nächtens immer die am nächsten Tag abzudrehenden Szenen in theatermachereigener Eitelkkeit eigenmächtig umgeschrieben habe. Ja, diese Künstler.

Goodwill
03.11.2001, 01:23
Was gibt es an dieser Geschichte zu mäkeln? Aus meiner Sicht nichts. Sie kommt so wunderbar verhäkelt daher, so anlaufstark und abschlussschwach, so enthusiastisch und vorsichtig komisch, dass ich sie überaus würdig finde. Max-frisch-würdig. Die Details über die Augenkrankheit und ihre Folgen sind erhellend. Wie sich die Blicke treffen, der eine mit Freude geladen, der andere wie ein Abwehrschild, das gefällt mir sehr. Wobei ich mich frage, wie man ÈMastercardÇ oder ÈAmerican ExpressÇ mit den Augen ausdrückt. Die ganze Begegnung hat etwas sehr Schweizerisches. Gefühle gibt es, aber sie werden nicht gezeigt. Redseligkeit findet nur Richtung Innen statt. Nach Außen beharscht man sich mit zu Klümpchen gefrorenen Höflichkeiten. Und das Ende mit der dicken Portion Pathos ist dann noch mal ein klassischer Rückenschauererzeuger.

Katzenfreundin
03.11.2001, 01:23
Der Vergleich mit dem 'Moskau der 90er Jahre' hinkt nicht nur, er ist völlig falsch, wenn man die angeführten Beispiele liest (Messer im Rücken, an Handtäschchen anketten etc). Bitte nächstes Mal informieren, bevor man so offensichtliche Unwahrheiten verbreitet!

DonDahlmann
03.11.2001, 01:23
Geh Deine Katzen fuettern. Ist bestimmt befriedigender. Muss man nicht dumme Geschichten lesen.

Ignaz Wrobel
03.11.2001, 01:23
virchow, wollen sie schweizerischer sein als der Papst?

vir
03.11.2001, 01:23
manchmal ist es einfach stärker als ich, bitte um Verzeihung

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Omnia vincit amor

Ignaz Wrobel
03.11.2001, 01:23
Jeder entschuldigt sich heute bei mir, verdammt, bin ich wirklich eine Respektsperson? Könnten Sie bitte diesen Sitzplatz für mich freimachen? Danke. Schmidtchen, haben wir diese neue Generation vielleicht ZU gut erzogen?

vir
03.11.2001, 01:23
'Ironie ist die Fähigkeit, aus einer Verlegenheit eine Überlegenheit zu machen'
Thomas Mann

Aporie
03.11.2001, 10:48
Das war so Herr Wrobel: Ich hatte in jungen Jahren einen Freund, der es, obwohl nur wenige Jahre älter, bereits zum Promi gebracht hatte. Er hat mich nicht nur mal Max Frisch vorgestellt, sondern auch Elias Canetti, der bekanntlich ebenfalls eine Zeitlang in Zürich gewohnt hat. Ich fand dann heraus, dass es sich um eine Wohnung gehandelt hatte, in der ich zusammen mit zwei weiteren Kommunarden auch mal gehaust hatte. Woraus Sie sehen, dass Zürich eine kleine Stadt ist, in der durch irgendwelche Zufälle jeder jeden kennt.
Was Frau Marianne Frisch anbetrifft, ist sie nach der Scheidung in Interviews unangenehm ehrpusselig mit Max Frisch umgegangen, weil er in ³Montauk' Interna aus seiner Ehe mit ihr ausgeplaudert hatte, dies jedoch mit angemessen nostalgischer Zartheit und mit zahlreichen Verweisen auf eigenes Fehlverhalten. Was ihr entgangen ist: Literatur bildet nie reales Leben ab, sie benutzt es nur als Material.
Eine Pfeife hatte ich erst einmal im Mund. Das war, weil ich eines lädierten Fußes wegen in unserem Fußballclub Schiedsrichter spielen musste.

Ignaz Wrobel
03.11.2001, 11:47
WAS? C A N E T T I ?!?!!!
????!!!!!????????!!!!!!!!!??????????!!!!!!!!
Du hast Elias Canetti getroffen? Und in seiner Wohnung gewohnt? Also wenn Du das nicht erzählst, und nicht absolut Klassiker-Vorlesereif mit allem Pipapo, also dann... weiß ich auch nicht.
Damit ist dieser trübe Morgen gerettet!
P.S. Das soll Dich überhaupt nicht unter Druck setzten! Am besten mailst Du mir das Manuskript und dann bilden wir hier ein Berliner Spontanlektorat, senden es dann nach Wien, wo es komplett verhunzt wird, lassen in Hamburg Hochprozentiges drüberkippen, in Taipeh etwas schwarzhumorige Erotik dazugeben, die dann im Ruhrpott (oder wie das heißt, wo die alle wohnen) rheinländisch verwässert wird, lassen es in der schwäbisch-bayrischen Provinz ornamental ausschmücken, in Frankfurt in die Rap-Fassung bringen und in in Bozen bekommt es den spirituellen Touch. Vielleicht noch einen Schuß Sympathieerzeugung aus dem badischen Raum. Überprüfung auf wissenschaftliche Korrektheit in Toronto und Toulouse. Dann könnt Ihr es in Zürich wieder in handwerklich saubere Form bringen und mit der nötigen Hintergründigkeit versehen. Ja, so machen wir das. Oder doch nicht?

Aporie
04.11.2001, 01:38
Das Interessanteste an Deinem Vorschlag, geschätzter Ignaz Wrobel, ist wohl der grenzüberschreitende Fleischwolf, durch den die Pappen ihre Stories drehen lassen könnten, um sie nachher, dekonstruiert, fraktalisiert, aufgepeppt, entschleimt, entschlackt, ent-bon-motisiert, verhonzt, verschlankt usw., zu einem ausdifferenzierten Mix aus Selbstreferenz und Fremdreferenz von neuem zu verquirlen und das Endprodukt hernach ins Forum zu stellen, damit dort allen sein fürderhin unantastbares eigentliches Sein vor Augen geführt wird. Das wäre dann das schon vielfach ausgerufene Ende der Kritik, die hier so munter gepflegt wird.
Meine Begegnung mit Canetti war unspektakulär, und ich finde auch heute noch, das Frisch den Nobelpreis eher verdient hätte. Aber ich werde darüber nachdenken.
Das mit der Wohnung habe ich vielleicht etwas schlampig erzählt. Ich wohnte nicht in seiner Wohnung, er kam nach mir. Es handelte sich um eine 3-Zimmerwohnung an der Klosbachstrasse 46 (ich werde gelegentlich nachsehen, ob die Hausnummer stimmt) , die er in den achtziger Jahren mietete und bis zu seinem Tod im Jahr 1994 bewohnte.

Ignaz Wrobel
04.11.2001, 01:41
Ich dachte, er starb in England?
Trotzdem: Details, Details! Aber dann schon richtig.

Die Wucht
04.11.2001, 01:43
Wertester Aporie, wir bewegen uns auf dem gleichen Erdenrund. Wenn ich Ihre Erzählung und die anschliessenden Ausführungen lese, kann ich das fast nicht glauben. Canettis Nachbewohner postet hier, wow. Max Frisch hinterhergelaufen ohne Ansehensverlust, wow.
Bevor ich nun gänzlich ins pubertär-alberne abdrifte: Junger Mann, ich bin hocherfreut so viel Schönes, Inniges, Wärmendes von Ihnen zu lesen.

Ignaz Wrobel
04.11.2001, 01:44
Nicht hier so verschleudern, wäre doch schade! Das mit der Wohnung hatte ich schon richtig verstanden, das ist doch mindestens genauso cool.

google
04.11.2001, 01:44
Bonmots? Ich sehe keine Bonmots. Schleim? Ich sehe keinen Schleim. Die Korinthenkackerei nervt. Wenn man nichts zu sagen hat, kann man ruhig auch einmal nichts sagen.

Aporie
04.11.2001, 01:44
Liebe Frau Wucht, seien Sie vorsichtig mit herzerwärmenden Worten, ich stehe hier schon wegen Bonmots und Schleim auf der Abschußliste. Wenn jetzt noch name droping hinzu kommt, werde ich endgültig kaltgemacht. Zwar habe ich mir die Canetti-Falle auf unbedachte Weise selbst gestellt. Aber alles, was ich zu diesem Mann äußere, erfolgt unter dem Zwang von Herrn Wrobel.
Eigentlich schreibe ich ja lieber über meine Begegnungen mit Leuten, die noch nie in ihrem Leben ein Buch gelesen, geschweige denn eins geschrieben haben.
Bedeutet 'auf dem gleichen Erdenrund' eine geographische Bestimmung?

Aporie
04.11.2001, 18:48
Das mag so sein, Wrobel, er hat vorher in London gewohnt und die Londoner Wohnung, so viel ich weiss, behalten. Ich meine aber, er liegt jetzt im Friedhof Enzenbühl (bei dieser Beerdigung war ich nicht dabei), ganz in der Nähe von James Joyce, der auch eine Wohnung in Zürich hatte (oder ist das nicht doch der Friedhof Fluntern?). Ich bewege mich jetzt auf Glatteis, denn ich bin weder Spezialist für letzte Ruhestätten noch für Canetti. Sein bulgarischer Übersetzer hat ihn jedenfalls zwei Jahre vor seinem Tod noch an der Klosbachstraße besucht. Virchow und Toblers wissen vielleicht mehr darüber, denn ich verlebte die neunziger Jahre im Ausland. Da kann einem schon die Übersicht über die Lebenden abhanden kommen, nicht zu reden von den Toten.
(Beitrag wurde von Aporie am 04.11.2001 um 17:50 Uhr bearbeitet.)

vir
04.11.2001, 19:07
Joyce liegt im Friedhof Fluntern - Canetti weiss ich nicht.

Die Wucht
04.11.2001, 19:07
Nein, nicht zwingend geographisch, Aporie, wir atmen die gleiche Luft hätte ich auch notieren können.
Name dropping, werter Schweizer Poster, davon sind Sie weit entfernt. Der wrobelsche Zwang, unter dem Sie Ihre Ausführungen gemacht haben, ist deutlich erkennbar.
'Sag' mir, wen Du kennst und ich sag' Dir, wer Du bist!'
Alternative:
'Sag' mir, wen Du getroffen hast und ich sag' Dir, wer Du bist!'
Mich treibt die leichte Sorge um, dass an oben genannten Sprüchen etwas dran sein könnte. Ich kenne nicht einen einzigen Intellektuellen, einen Berühmtheitsgrad lasse ich ganz ausser acht. Stattdessen habe ich zufällig getroffen: Den Bassist von Nena, Vivienne Westwood, 'die Fahranas', Giovanni di Lorenzo, Johnny (Sänger von Plan B), Marcia Haydée, Katharina Sieverding, Angela Merkel, Hans-Joachim (?) Kuhlenkampff, Heiner Müller, Friedrich von Thun, Sophie Rois, Barbara Auer und diverse namenlose Schauspieler. Das ist nicht wirklich die Speerspitze der Intellektuellenliga - von der einen Ausnahme mal abgesehen. (Wim Wenders habe ich verpasst.)
Und Sie - Sie haben wahrscheinlich auch noch mit Ingeborg Bachmann einen Tee getrunken oder immerhin einmal ihre Teetasse gespült, als sie noch lebte.

Lenin
04.11.2001, 19:32
Friedhof Fluntern
Lage: Zürichbergstrasse 189,
8044 Zürich
Fläche: 33'250 m2
Errichtet: 1887
Erweitert: 1907 / 1928 / 1948
Friedhofverwaltung: Ernst Ryter,
Tel. 251 87 00
E-Mail: FriedhofFluntern@gla.stzh.ch
VBZ-Verbindungen
Erreichbar mit Tram 6 bis Zoo/Allmend Fluntern
Der Friedhof Fluntern liegt am Zürichberg, eingebettet in Zürichs populäres Naherholungsgebiet in der Nähe des Zoos. Im oberen Teil hat sich der Friedhof - inmitten des jetzt dichten Fichtenbestandes - zum Waldfriedhof gewandelt. Viele Familiengräber mit individuellem Grabschmuck und frei stehende Skulpturen bereichern die gepflegte Anlage. Beeindruckend wirkt auch die künstlerische Figur beim Gemeinschaftsgrab. Der Friedhof Fluntern strahlt eine besondere, idyllische Stimmung aus.
Zahlreiche Menschen, auch aus dem Ausland, besuchen den Friedhof Fluntern. Sie suchen die Grabstätte des Schriftstellers James Joyce auf, welcher hier bestattet ist. In seiner unmittelbaren Nähe zieht auch das schlichte Grab des Nobelpreisträgers Elias Canetti viele BesucherInnen an.
http://www.stadt-zuerich.ch/bfa/friedhoefe/fluntern.html

vir
04.11.2001, 19:33
Ist ja logisch, dass Lenin sich in Zürich auskennt.

Lenin
04.11.2001, 19:47
War noch nie da! Alles Propaganda!

Aporie
04.11.2001, 19:59
Dann sind es ja doch zwei Fliegen auf einen Streich. Aber auch Canetti hat sich ein Leben lang mit Friedhöfen schwer getan.
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Virchow, warum sind Sie noch nicht am Kravattebinden?

Aporie
05.11.2001, 17:08
Auf zentrale Fragen aus dem eigenen Strang nicht zu antworten halte ich für unhöflich.
Eigene Stränge, die schon tief gefallen sind, wieder nach oben zu zerren auch.
Aber ich muss jetzt. 1. zum Zahnarzt und 2. gibt es heute so viele gute Geschichten, dass ich eh bald wieder dort bin, wo ich mich jetzt abhole:
@Wucht
Ich habe von allen Leuten, die Sie hier aufzählen, noch niemanden getroffen. Und das sage ich nicht, weil ich es für interessanter halte, Max Frisch statt Barbara Auer zu treffen.
Es ist mir auch peinlich, daß ich zufälligerweise ausgerechnet den beiden, die sie in ihrer Liste aussparen, je 1x begegnet bin. Aber sollte ich einmal über diese zwei Begegnungen schreiben, wäre es noch peinlicher, das an dieser Stelle nicht zugegeben zu haben.

Ignaz Wrobel
05.11.2001, 18:20
Frau Wucht, welche eine Ausnahme, also Speerspitze der Intellektuellengala, meinen Sie? Hans-Joachim Kuhlenkampff? Das würde ich aber gerne lesen!
Und Aporie, bei Ihnen wundert mich garnichts mehr. Wahrscheinlich haben Sie mit Frisch, Canetti, Wenders und Bachmann eine muntere Fünfzimmer-WG geteilt. Ich wette, die Bachmann war am schlampigsten! Wenders war eh nie da, sondern hat immer lange Spaziergänge am See gemacht und Canetti, Frisch und Sie haben regelmäßig den Abwasch erledigt und sich dabei prächtig unterhalten.

Die Wucht
05.11.2001, 18:23
Nee, Wrobel, ich meinte den Bassist von Nena.