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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Soares, Elsa (Geschichten vom Zuckerhut)



U_Sterblich
29.10.2001, 16:08
Elsa Soares
Ich traf Elsa Soares 1996 bei einer Poolparty in Rio de Janeiro. Ich war gerade eben aus Berlin angekommen, hatte 17 Stunden reisen hinter mir und den Winter in den Knochen. Ich war das erste Mal in Südamerika. Ich wohnte bei Ruca, einer Exfrau des gefeierten Samba-Sängers Martinho da Vila, dem Sohn und der Tochter aus jener Ehe und deren Ehegatten. Beide Mädchen waren hoch schwanger.
Nach meiner Ankunft erhielt ich ein Begrüßungsbier und durfte unter dem Ventilator in der Lounge Platz nehmen. Dort radebrechte ich einige Stunden mit diversen Familienmitgliedern, hoffte vergeblich, dass man mir eine Dusche und ein Bett zeigt und kämpfte gegen den Schlaf an. Schließlich kam Tonico, der Sohn des Hauses, die Treppe heruntergeschlurft. Er würdigte mich keines Blickes, setzte sich an seine Congas und spielte sehr sehr laut. Danach benahm sich der Mittzwanziger für eine Weile ausgiebig wie ein verzogenes Kleinkind, mich weiterhin konsequent ignorierend. Endlich kam er auf mich zu und forderte mich auf, ihn nach draußen zu begleiten. Dort begrüßte er mich aufs herzlichste, kaufte mir viel wässriges Bier und verkündete feierlich: 'Jorge hat dich zu uns geschickt. Jorges Freunde sind auch meine Freunde. Rio ist eine gefährliche Stadt. Wenn dir hier irgendwas passiert oder jemand dir dumm kommt, dann sag es mir, ich werde das dann regeln.'
Etwas später, die Erschöpfung hatte bereits meine Wahrnehmung getrübt, brachen Ruca, ihr aktueller Mann und ich zu besagter Party auf. Dort redeten zahlreiche Menschen gleichzeitig mit mir, knuddelten mir im Gesicht herum und nannten mich 'Branquinha' ö Weißchen.
Elsa Soares, einst eine Schönheit, einst verheiratet mit der Fußball-Legende Mané Garrincha und einst eine Größe der brasilianischen Musik kam ab und an würdevoll lächelnd vorbeibalanciert und sagte: 'Lasst doch die Kleine, sie ist ja ganz müde und versteht nur die Hälfte.' Beides wahr gesprochen.
Ich schlief in einer Hängematte ein, und als ich mitten in der Nacht aufwachte, spielten ein paar Gitarreiros melancholische Bossa Nova Weisen. Elsa Soares sang ab und an einen ihrer Schlager, jedes Mal lies sie sich lange dazu bitten. Wenn sie sang, summten einige gedankenverloren mit, andere weinten.
Irgendwann am nächsten Tag plätscherte die Party endlich aus und wir fuhren zurück. Im Haus stritt sich Tonico mit seiner schwangeren Frau. Sie warf Schuhe nach ihm, er lachte.
Nächsten Tages musste ich gleich früh raus, um mein Praktikum am Goethe-Institut anzutreten. Alles schlief noch. In der Küche hatte der bissige Hund den Müll gründlich auf dem Boden verteilt.

Günter Uecker
Das Goethe-Institut und das Museum für Moderne Kunst von Rio de Janeiro hatten die deutschen Künstler Günther Uecker und Gerd Rohling zu einer Doppelausstellung eingeladen. Ich durfte die beiden sehr sympathischen Menschen betreuen und den ganzen Tag im Museum herumschleichen. Einen Tag lang fuhr ich mit Herrn Uecker und dem Fahrer des Goethe-Instituts durch die Stadt zum Nagel-Shopping. Günther Uecker ('Nagel-Uecker') wollte Nägel kaufen in Rio. So fuhren wir von einem Metallwaren- und Werkzeuggeschäft zum nächsten, Herr Uecker begutachtete die Nägel, zwischendrin tranken wir Kaffee.
Bei der Ausstellungseröffnung fand sich die germanophile Haute Volée von Rio ein. Auch der arrogante Schönling, der zu dieser Zeit Kulturattaché im deutschen Generalkonsulat war. Er hatte sich schon seine kleine Anekdote aus der schillernden Diplomatenwelt für den Plausch mit Günther Uecker zurechtgelegt, aber seine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Mit einem Sektglas in der Hand klopfte er Herrn Uecker jovial auf die Schulter und plauderte ihn an: 'Der Botschafter von Moskau hat mir ja mal diese nette Anekdote erzählt, wie jemand bei ihrer Ausstellung dort die Nägel geklaut hat, weil Nägel gerade rar waren in Russland.' Herr Uecker guckte wo anders hin und bellte: 'Propagandakacke.'

Martinho da Vila
Einmal gab Tonicos Papa, der gefeierte Martinho da Vila, ein Konzert in Rio. Er hatte gerade einen landesweiten Hit mit dem Titel 'Mulheres'. Der Text handelte davon, wie Martinho da Vila schon so ziemlich alle Frauen der Welt 'hatte' und nun aber endlich die, die ihn glücklich macht. Tonico spielte Percussion. Nach dem Konzert bestand er darauf, dass ich seinen Papa begrüße. Massen von Menschen standen in einer langen gewundenen Schlange an der Garderobe an. Darin thronte in einem Lehnstuhl als Inkarnation von King Kacke der Meister, schüttelte Hände und segnete CD Hüllen. Hinter ihm stand, locker 40 Jahre jünger als er, seine x-te Frau, die, die ihn glücklich machte. Sie befasste sich damit, glamourös zu lächeln und die Wartenden zu dirigieren.
Nur wenige Monate später sollte Martinho von einem abgesagten Konzert als ungebetener Gast im eigenen Haus in eine koksselige Party platzen, die seine jugendliche Frau und deren jugendlicher Liebhaber dort veranstalteten.

rron
29.10.2001, 16:15
Ich lege mich jetzt beruhigt zum Sterben. Besser wirds eh nimmer.

vir
29.10.2001, 16:16
Melancholisch und leise, wie ein Bossa Nova, nachts durch ein geschlossenes Fenster gehört.

(Beitrag wurde von virchow am 29.10.2001 um 15:27 Uhr bearbeitet.)

bastifantasti
29.10.2001, 16:24
unsterblich schön.

Ignaz Wrobel
29.10.2001, 16:27
Mehr wie eine Telenovela mit Iglesias im Hintergrund und einem entsprechenden Getränk im Glas. Genau das richtige bei diesem Wetter. Man kann's auch mehrfach lesen, schon um irgendwann zu verstehen, wer mit wem verwandt ist.

lesering
29.10.2001, 16:34
So schnell wurde mein im neuen yellowshark geäußerter Wunsch erfüllt.
Unaufdringlich und überaus stimmungsvoll.
Und dabei kenne ich die Leute gar nicht. Ist das peinlich ? Darf ich auch den Buenavista Social Club im Hintergrund laufen lassen ?

Murmel
29.10.2001, 16:37
Siebenschön.

Edding Kaiser
29.10.2001, 17:24
fühlt sich mit der Welt versöhnt.

yellowshark
29.10.2001, 17:28
Ich spendiere ein Schälchen gedankenverloren geweinte Freudentränen.
------------------
ys

Andrea Maria
29.10.2001, 18:11
Ulrike, so eine schöne und warme Geschichte! Man möchte versinken und einschlafen und nie mehr aufwachen aus dieser Geschichte.

Walter Schmidtchen
29.10.2001, 19:24
Danke, Horst

Herr Weber
29.10.2001, 19:27
U_Sterblich! Sie haben doch bestimmt noch mehr erlebt! Halten Sie sich nicht länger zurück! Raus damit! Bitte!!!

Sabeta
29.10.2001, 21:12
hoch mit dem zuckerhut. der soll nicht untergehen.

Larry Erbs
29.10.2001, 21:50
Ich habe das sehr gern gelesen. Bitte mehr davon.

Aporie
29.10.2001, 22:18
Jeder Nagel sitzt. Schöner als bei Uecker.
uma saudade literalmente doce, uma maravilha

DREA
31.10.2001, 01:18
Wie schoen wieder einmal von Erlebnissen zu lesen, in denen weder Flughaefen noch Aborte eine Rolle spielen, und noch dazu in erwaermender Stimmungsdichte!
Feine Sache das, werte U.

Frau H aus B
31.10.2001, 01:18
Nach telekombedingter Zwangsabstinenz wühle ich mich in einem trüben Internetcafé durch die Sedimente der letzten Tage und finde diese drei hübschen Goldnuggets zwischen all dem Kies. Und ein Stück stromaufwärts habe ich sogar noch einen vierten erspäht! Danke, U.!

Ich war Jutta Lampe
31.10.2001, 01:18
Ach.

honz
16.11.2001, 21:54
weil Freitag ist. Und weil ich mich noch nicht in diesen Strang getraut habe.

Benzini
16.11.2001, 23:25
Benzini erinnert sich bei dieser äußerst angenehmen Gelegenheit an einen Bekannten der es liebte in besonderen Augenblicken, wie beispielsweise vor ein unlösbares Rätsel gestellt, oder im Griff einer starken unbegründeten Traurigkeit aber auch beim Betrachten eines gelungenen Bildes diese Worte zu sagen: - Nunca niguem se perdeu;
tudo e verdade e caminho.
Ein außerordentlich musikalisches Stück in dieser Schreibstube, wie Benzini findet.

Bartholmy
17.11.2001, 00:29
Danke fürs Hochpunkten, honz. Die Geschichte war mir ganz entgangen. Guckt man mal kurz nicht rein und schon ist, schwupps, sowas weg.
Allerhand gefällt mir an der Geschichte - am besten und insgesamt aber, dass ich von Brasilien nichts, gar nichts weiß und noch nie vor irgendeinem (das dt. Personal ausgenommen) dieser Leute gehört habe.
Macht Paparazzen gleich viel mehr Spaß ... die eigenen blöden Ruhm-Assoziationen sind aus dem Fenster, und man kann das Ganze so irgendwie als Abstraktion des 'Aha, so sind sie, die berühmten Leute' lesen.
Und nur Abstraktion wäre dann aber auch wieder anödend. Aber vielleicht erst über diesen Umweg wirkt - auf mich zumindest - das ganze Detailgewusel der Schilderung so recht - es knallt: Wow. Was für ein Detailgewusel. Und keine Details dabei, die ich schon gekannt hätte.
Danke.

maki
27.08.2002, 15:35
.

Jeremy
17.05.2004, 23:06
Mach ich dann mal, der HfH scheint unabkömmlich.

Jeremy
17.05.2004, 23:08
Ausserdem erfülle ich gerne Klischees, das gibt mir immer so eine Energie auf den Abend. "Schutzpappe" bin ich trotzdem nicht: zu langsam.

U_Sterblich
17.05.2004, 23:09
bedankt.

U_Sterblich
17.05.2004, 23:10
Und nochmal die unabkömmliche Information: sie heißt ELZA Soares, mit Zett. Mein Gott.

U_Sterblich
17.05.2004, 23:24
Muss jetzt jetzt hier noch rein: Elza mit Garrincha

http://www2.uol.com.br/uptodate/elzasoares/elzagarr.jpg

U_Sterblich
10.11.2016, 10:16
Elza Soares ist inzwischen 80, geht aber immernoch auf Tournee. Heute spielt sie in Berlin. So sieht sie jetzt aus:

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Die Wucht
23.03.2020, 16:30
"Sie heiratete mit 12 Jahren und verlor im jugendlichen Alter drei Kinder, die an Unterernährung starben". Gott oh Gott, und Wer nicht weiß, was Unterernährung ist, kann sich das mit einem Klick erklären lassen. Das gilt beruhigender Weise auch für Alkohol: "Elzas Ehe war konfliktreich und unglücklich, schließlich begannen auch ihre Gesundheit und Popularität zu leiden, als sie in zunehmendem Maße dem Alkohol frönte." Frönte. Was wohl die Leute anders machen, die dem Alkohol frönen, als die, die ihn schlicht trinken?
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Elza_Soares#Leben

Das Haar Game von Elza ist nach wie vor strong.

U_Sterblich
20.01.2022, 22:40
Jetzt ist Elza gestorben, mit 91.

U_Sterblich
21.01.2022, 17:04
https://www.theguardian.com/world/2022/jan/20/elza-soares-one-of-brazils-greatest-ever-singers-dies-at-91