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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Brook, Peter (und Petersburg)



Tornatzky
11.10.2001, 22:04
Damals, als ich das Theater noch liebte, bin ich einmal nach Petersburg gereist. Nicht etwa des Theaters wegen, oder der weißen Nächte (die nicht weiß, eher blond sind ö weich und hell und ein bischen gefährlich), sondern ich bin gereist, weil ich die Reise eben geschenkt bekam. Von meinen Großeltern. Genauer, von meinem Großvater. Meine Großmutter ist leider geizig.
Ich machte mich also in Begleitung einer jungen, slavophilen Schauspielerin auf den Weg in die Zarenstadt. Die Schauspielerin schrie nachts, im Traum. Vielleicht tut sie das heute noch, ich weiß es nicht. Dieses nächtliche Schreien ist sehr unangenehm. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Wir haben nicht im selben Bett genächtigt, die Schauspielerin und ich, wohl aber im selben Zimmer. Und plötzlich sitzt sie im Bett und schreit. Aus Leibeskräften. Ich war sehr erschrocken. Aber während sie sich dank meines Zuspruchs rasch beruhigte, lag ich noch lange mit klopfendem Herzen wach. Sie ist übrigens nicht blond, die Schauspielerin. Ich bin blond, meistens.
Wir haben dann die letzte Seite unseres schmalen Reiseführers aufgeschlagen und Punkt für Punkt alles abgehakt, was da unter der Überschrift ³Seien Sie bitte vorsichtig bei:ã versammelt war. Wir waren jung. Und wir waren reich, wenigstens hier. Wir sind mit der Metro tief in den gefrorenen Sumpf der Stadt gefahren. Wir sind nacht-tags in illegale Jazz-Clubs gegangen. Haben Marmeladengläser voll schwarz-perligem Kaviar in Hauseingängen gekauft und alle Ikonen in allen Gotteshäusern der Stadt besucht. Wir sind bis an den Stadtrand gefahren und haben einen ganzen Nachmittag auf dem Dach eines Studentenwohnheims verbracht und Kaviar gelöffelt. Wir wären auch länger geblieben, wollten uns aber ungern erkälten in dem kalten Wasser, das auf dem Dach, im Fahrstuhlschacht und auf den Gängen des Wohnheims stand. Im vergangenen Sommer hatten die Studenten das Dach mit dem Feuerwehrschlauch geflutet und so lange in dem Wasser gebadet, bis es angefangen hatte, zu stinken. Jetzt stank es gar nicht mehr. Aber es war immer noch da.
Wir haben nicht geschlafen in diesen blonden Nächten. Sie hat geträumt und ich war in Trance. Und einmal sind wir, natürlich, ins Theater gegangen. Nicht ins Ballett, extra nicht. Wir gingen also ins Mali-Drama Theater. Es lief die Derniere zu ³Lord of the Fliesã. Im Foyer wimmelte es von Menschen. Die Schauspielerin entwickelte aus dem Stand einen unverschämten Charme und ergatterte zwei Karten für die völlig ausverkaufte Vorstellung. Ganz ohne Bestechung. Wir saßen fünfte oder sechste Reihe Mitte. Rechts und links neben den Stuhlreihen standen alle Künstler, Intellektuellen und Vergnügungssüchtigen der Stadt. Nur in der Reihe vor uns waren noch Plätze frei. Zwei. Der letzte leere Raum in diesem Theater. Ich war sehr aufgeregt. Alles redete durcheinander, es war laut und ein Feuer hätte uns alle erledigt, denn an Flucht war in dem zugepackten Saal nicht zu denken. Und kein Schlauch oder Feuerlöscher nirgendwo.
Dann kam Bewegung in die Stehenden und die Menschen in der Reihe vor uns erhoben sich einer nach dem anderen sitzklappender Weise von ihren Plätzen. Durch dieses Halb-Spalier ging Peter Brook. Lächelnd. Sich mit einem gütigen Kopfnicken bei jedem Aufgestandenen einzeln bedankend. In Begleitung einer verschattet wirkenden Frau. Verschattet, weil diese Grinsekatze von Regisseur wahrscheinlich die meisten Begleitungen einfach überstrahlt. Als der Meister bei seinem Platz, also vor uns, angekommen war, hat er mir direkt ins Gesicht gegrinst. Also bin ich auch aufgesprungen, obwohl ich ja gar nicht in seiner Reihe saß. Was ich aber erst bemerkte, als er sich setzte und ich immer noch stand.
Ich kann mich leider nicht an ein Gespräch mit Peter Brook erinnern, die Begegnung mit ihm war für mich zu traumatisch. Die Vorstellung jedenfalls war großartig, die Schauspieler waren großartig, das Publikum war großartig.
Eine Woche später sind wir nach Köln/Bonn zurückgeflogen. Die Schauspielerin ist übrigens sehr begabt, aber nach wie vor weitestgehend unbekannt. Peter Brook ist in Theaterkreisen nach wie vor sehr bekannt. Ich habe das Theater weitestgehend aufgegeben.

honz
11.10.2001, 22:11
sehr schön, sehr schön, mal eine Geschichte ohne Pointe, gut tut das, nüchtern aber nicht teilnahmslos, eine einfache Reportage mit Herz und Kaviar an unwirtlichen Plätzen.

Walter Schmidtchen
11.10.2001, 22:12
Ich wart erstmal die Rezensionen ab.
was aber, wenn jetzt alle immer erst die Rezensionen lesen?

honz
11.10.2001, 22:12
Für tex: keine Zusammenfassung, musst du selber lesen, so wie Budapest vor 13 Jahren und jetzt Odessa, lohnt sich.

honz
11.10.2001, 22:13
hey tex du arsch, das war Gedankenübertragung

Walter Schmidtchen
11.10.2001, 22:13
honzelbert ist mir zuvor gekommen, ich les sie aber trotzdem erst morgen

Walter Schmidtchen
11.10.2001, 22:14
Du schwein, musst Du nicht arbeiten?

Walter Schmidtchen
11.10.2001, 22:14
oder sitzt Du wieder im Internetcafe hinter mir?

Walter Schmidtchen
11.10.2001, 22:15
Was muss denn jetzt der arme Tornatzky denken?

honz
11.10.2001, 22:18
ich glub der kann das ab. ist ja slavophil

Walter Schmidtchen
11.10.2001, 22:24
ok, ich leses jetzte

Walter Schmidtchen
11.10.2001, 22:29
Schön, athmosphärisch, melancholisch, unaufgeregt, fixen wir diesen Mann an, chucken wir ihn an!
Andrea, Du bist doch petersburgophil, sag was!

Andrea Maria
11.10.2001, 23:20
Schöne Geschichte, vor allem das Schreien, kann sein, dass das vom Vodka kommt, das ist echt Petersburgisch. Auch das geflutete Dachgeschoss ist sehr fein. Ralph Tornatzky darf bleiben. Kriegt ein Zimmerchen mit Chuck.
Ich bin noch immer entsetzt von Oliver Fuhr....

Goodwill
12.10.2001, 14:11
Diese Geschichte irrlichtert sehr weiß und petersburgisch vom ersten Satz bis zum letzten. Diese beiden bilden die Klammer, von der alles aufs grazilste zusammengehalten wird. Alles durchweht ein Hauch von Wehmut und Abschied. Ein Text wie ein Julitag an der Newa: Man ahnt schon das Welken des Laubes, will es aber noch nicht wahrhaben.
Brook ist ein Theatergott, ein Raumpoet, ein Magier der Schauspieler. ÈDer SturmÇ und ÈDer Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselteÇ gehörten zum besten, was es damals gab. Damals, als ich das Theater noch liebte.
(Beitrag wurde von Goodwill am 12.10.2001 um 13:24 Uhr bearbeitet.)

U_Sterblich
12.10.2001, 14:30
Schmidtchen, alter Milzbrand, ich sag dir jetzt mal wie ich das mache. Ich lese die ersten Sätze ohne zu gucken wie lang das Ding ist, und wenn es mich packt, dann lese ich eine gute Geschichte zu Ende. Vielleicht ist das ja auch mal eine Methode für dich.
Diese konnte man sofort und freudig durchlesen par example.
(Beitrag wurde von U_Sterblich am 12.10.2001 um 13:31 Uhr bearbeitet.)

honz
13.10.2001, 14:43
.

Ella Roc
14.10.2001, 15:01
.
der Ton ist so schön in dieser Geschichte

Ignaz Wrobel
15.10.2001, 00:13
Schön und traurig. Wieso war die Begegnung mit Brooks traumatisch? Wieso hat Tornatzky das Theater weitestgehend aufgegeben?

Tornatzky
15.10.2001, 10:52
@Wrobel
Stellen Sie sich vor, Sie salutieren vor einem Buddhisten. Bleiben stramm stehen und vergessen die Welt um sich herum. Auch den Buddhisten. Irgendwann erinnern Sie sich dann wieder an die Welt, weil die Welt über Sie lacht.
Ich kann weiter darüber nicht sprechen.
Das also plus dem, was Goodwill völlig zu Recht über Brooks Größe geschrieben hat, war mindestens einer der Gründe, warum ich mich vom Theater verabschiedete. Es ist nicht angenehm, die eigene Mittelmäßigkeit zu bemerken. Oh, vielleicht habe ich mich in diesem Punkt etwas zu vorsichtig geäußert: Damals habe ich noch, wie man so schön sagt, Theater 'gemacht' und nicht nur geguckt.
@honz, Walter Schmidtchen, Andrea Maria, U_Sterblich, Goodwill und Ella Poc
Danke. Ich freue mich.

Tornatzky
15.10.2001, 10:55
Verzeihung. Ich meinte natürlich Roc, nicht Poc.

Andrea Maria
15.10.2001, 11:11
Und strenggenommen hiesse es auch St. Peterburg.

Pomito
15.10.2001, 12:24
Ich kenne weder Herrn Brook noch Leningrad. Aber jetzt kenne ich Tornatzky - sehr schön.

honz
17.10.2001, 01:11
Seit dem ich den letzen Kommentar von Tornatzky gelesen habe, lässt mich eine Vorstellung nicht mehr los - wie das wohl ist wenn man vor einem Buddhisten salutiert. Ist das schon Zen?

Angelika Maisch
17.10.2001, 01:18
Nicht unbedingt. Aber es kann ein Anfang sein.
(macht Gasho vor Honz)

naja
17.10.2001, 01:38
Sehr russisch. Gleich muß ich ein bißchen weinen, wie sich das gehört. Man reiche mir Wodka zum Trost.
P.S. Andrea Maria: Wenn Tornatzky und seine Schauspielerin dort reich waren, und es noch illegale Jazz-Clubs gab, dann hieß Piter offiziell eh noch Leningrad. Damals, als er das Theater noch liebte und Kaviar aus Marmeladengläsern löffelte.

(Beitrag wurde von naja am 16.10.2001 um 13:09 Uhr bearbeitet.)

DerCaptain
17.10.2001, 01:38
Es ist nicht angenehm, die eigene Mittelmäßigkeit zu bemerken.

...dachet ich gerade beim Lesen dieser schönen stillen Erzählung.
------------------
'd'oh!'

honz
26.10.2001, 21:46
Petersburg und Jazz, und dazu Melancholie dazu kann es nur eines geben:
Schostakowitsch, der 2. Walzer, aus der Jazz Suite:
Wer eine Soundkarte hat: Stück Nr. 11
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/B00005M9HV/qid=1[postid]258/sr=1-3_pi/ref=sr_sp_prod/302-3416587-5167236

honz
26.10.2001, 21:47
Mist, Strang gesprengt ! ,
Kriegt man das wieder kleiner?

oha
27.10.2001, 03:35
perle. hoch damit.

honz
13.04.2002, 13:39
Assoziationsamoklauf: die Musik bleibt, naheliegend ist natürlich die andere Petersburggeschichte, da ist diese Wohnung am Fluss, er heißt was mit M und A und da sind die beiden wohlerzogenen Mädchen.

Genau. Brian Eno von Lenin (http://www.alles-bonanza.net/forum/showthread.php?s=&threadid=11028) . Haben andere natürlich auch schon gemerkt.

v. Zarenstadt
10.08.2004, 16:59
Ich erreichte die Stadt im Kalten Krieg. Es war sehr kalt und man konnte noch kilometerweit über die Dächer gehen. Außerdem war es damals dunkel. Keine weißen Nächte im Winter. Oder eigentlich doch. Aber nur auf dem endlos gefrorenen Wasser.
Ich bin nie wieder weggegangen. Ich habe hier mein Leben behalten, und das will was heißen.

Ich bin nun schon im Ruhestand, wenn man das so sagen kann. Es heißt genaugenommen, daß ich immer noch auf der paylist einiger Dienste stehe, aber seit Jahren keine Aufträge mehr bekomme. Das hat auch angenehme Seiten. In der ersten Zeit hatte ich Angst. Das hat aufgehört. Ich habe mich daran gewöhnt, mich hier ins Leben zu mischen, auf eine etwas zittrige Art inzwischen. Ich betreue oft Filmcrews. Es kann sein, daß die eine oder andre Geschichte für dieses Forum aus mir hochtanzt wie der Walzer von Schostakowitsch.

Jedenfalls macht mir die Geschichte mit der schreienden Schauspielerin sehr große Freude. Ich kannte auch so ein Dach.