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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Herrmann, Judith (geht morgens)



Yvonne Caldenberg
01.08.2001, 00:59
Zeit:
Vor gut einem Jahr, etwas länger eher, es war noch sehr kalt.
Ort:
Rosenthaler Straße, Berlin Mitte
Aus Gründen, die ich nicht mehr genau weiß, war ich schon sehr früh ins Büro gegegangen. Entweder war sehr viel zu tun, oder tagsüber nervte der Baulärm oder der Lärm der Kollegen, oder ich war einfach aus Überdruss, ähbäh, am Vortag zu früh zu Bett gegangen - wie auch immer - jedenfalls war ich schon um halbacht im Büro, was nicht so häufig vorkommt.
Das ist sehr angenehm, ich komme mir dann sehr fleissig vor, und kann bei den später kommenden Kollegen angeben.
Es hat aber auch einen Nachteil: Das Geschäft in Büronähe, in dem ich mir mein Frühstück und meine Tagesration an Getränken kaufe, öffnet erst um acht. Dazu muss ich sagen , dass ich viel auf Routine halte. Gelegentlich mal früh ins Büro kommen ist ok. Frühstücksgebäck und Getränke anderswo kaufen, ist nicht ok mit mir, ganz und gar nicht.
Ich musste also, ein wenig Korrespondenz war erledigt, um Viertel vor Acht wieder aus dem Büro, alles nötige besorgen.
Und da, knapp vor dem Laden, ging im morgentlichen Gewühl aus Sekretärinnen und Bauarbeitern in der Rosenthaler Str. Judith Herrmann an mir kanpp vorbei.
Ich war ganz baff, weil erstens erkannte ich sie sofort. Sie sah ganz genau so aus, wie auf all den Fotos. Sie war auch nicht kleiner oder größer. Die Nase war so wie immer. Und sie trug einen eng taillierten, eleganten Mantel mit Pelzkragen und etwas flauschiges um den Hals gewickelt. Mit ihren russischen Augen schaute sie streng gerade aus. Sie bewegte sich unauffällig aber würdevoll und zielstrebig.
Mich wunderte vor allem, dass sie um diese Zeit hier unterwegs war und so rangiert aussah. Nachts - ok. Aber am frühen Morgen? Wo bleibt die Boheme, das Künstler-Club-Leben? Dass es gerade nicht so war freute mich.
Und dann war sie vorbei, und ich ging arbeiten.
(Ich habe von ihr noch nie etwas gelesen. Kommentare zu dem was sie schreibt müssen hier nicht her, wirklich nicht).

lacoste
01.08.2001, 01:58
Ich war mal mit meinem Freund Mark-Stefan Tietze auf einer Lesung von Judith Herrmann (heißt sie nicht Hermanns?) in der Stadtbücherei von Münster. die Lesung gefiel uns nicht, weil die Geschichten uns nicht erreichten. Die Geschichten erreichten uns nicht, obwohl sie bestimmt eine ganz neue Sache waren. Es lag an uns. Wir waren zu der Lesung zu spät gekommen und es gab nur noch Plätze in der ersten Reihe Mitte, so ziemlich auf Augenhöhe mit Frau Hermann(s). Irgendwann spürten Mark-Stefan und ich eine gewisse gegenseitige Heiterkeit, die sich in und breit machen wollte, angesichts der wirklich außergewöhnlichen Texte, die dort vorgetragen wurden. Das wurde immer schlimmer. Ein paar mal haben wir uns angekuckt - großer Fehler!!! Wir mussten so kichern, dass wir uns die Nasen zuhalten mussten, um keine Geräusche zu verursachen. Als wir das merkten, vermieden wir es, uns anzusehen, denn es waren Kulturausschuss- und Stadtratsmitglieder im Publikum und ich war zu der Zeit selbst im Kulturausschuss von Münster. Die ganze Szene erinnerte mich damals an ein traumatisches Erlebnis, das ich mit 12 Jahren hatte: Damals war ich mit meine Schulfreundin Kirsten unterwegs, um mit Ihr zu meiner ersten Leiche zu gehen. Das war ein Bischof, der im Dom aufgebahrt lag, und Kirsten und ich hatten noch nie eine Leiche gesehen. Es war natürlich alles sehr feierlich und katholisch, Stadthonoratioren, oder wie die heißen, flanierten am toten Bischof vorbei, und irgendwann standen Kirsten und ich auch vor der Leiche und mussten stereo total kichern.
So war es auch mit Mark-Stefan bei der Lesung. Immer, wenn wir dachten, wir hätten uns wieder berappelappt, kriegte einer von uns wieder einen Anfall. Aber wir sahen uns nicht dabei an, so blieb alles ein wenig unter Kontrolle. Bis Judith Hermmanns eine Geschichte vorlas, in der sie (?) unter dem Schreibtisch eines Rechtsanwaltes herumkrabbelte, um die Perlen eines Korallenarmbandes aufzusammeln, dass sie vor Angst oder Aufregung zerrissen hatte. Natürlich nicht sie selbst, es war ja eine erfundene Geschichte, aber in der Ich-Person geschrieben, vorgelesen und ernst gemeint. Metaphorisch angehaucht. Das Armband stammte von ihrer Urgroßmutter und beim Rechtsanwalt war sie wegen ihres Freundes, glaube ich. Soweit sogut! ABER: Genau bei dieser Geschichte kuckte Mark-Stefan immer ruckartig zu mir rüber, weil er genau wusste, dass ich das merkte und sofort prusten musste, weil er wusste, dass wir erste Reihe Mitte saßen und die anderen aus dem Kulturausschuss mich auch sahen, weil er wusste, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte, weil wir beide schon den ein oder anderen strengen Blick von Frau Hermanns eingesteckt hatten, weil er ALL DAS GENAU DAS WUSSTE, brachte er mich absichtlich zum Lachen!!! Es war die Hölle!
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Herr Weber auch.

Herr Weber
01.08.2001, 02:05
Bei der Lesung wäre ich auch gern dabei gewesen. Ich bin sehr gut im 'Leute-zum-Lachen-bringen-wenn-es-nicht-
angebracht-ist'.
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Lacoste, unser Haarstrang wird berühmt!!

Yvonne Caldenberg
01.08.2001, 02:14
Ich sehe schon, ich muss auch mal zu einer Lesung von Judith Herrmann (ist das die Schreibweise?).
Gibt es mal eine, nehme ich lacostes Schilderung mit und kucke dann zwischendurch immer tief da rein, zum kichern.
Von J.H. kenne ich außer Fotos, Rezensionen bisher wirklich nichts. Bin deswegen schon gespannt. Kicher.

Ignaz Wrobel
01.08.2001, 08:29
Yvonne, das war eine schlichte Meisterleistung und nichts weiter! Aus einem Nichts - bekannten Menschen auf der Straße gesehen - einen kleinen Alltagsessay gezaubert. Gut vor allem die drehbuchartige Einleitung: Zeit, Ort. Dann ein Einblick in Deine stinknormale Alltagsroutine, die Schriftstellerin, von der du noch nicht mal was gelesen hast, taucht kurz auf, Du beschreibst sie ('Die Nase war so wie immer')machst Dir Deine Gedanken und dann... 'Dann war sie vorbei und ich ging arbeiten'.
Genau.

Treutwein
01.08.2001, 15:16
Zeit: Irgendwann Sommer 1999. Ort: Wasserturm, Berlin Prenzlauer Berg.
Nachts um 2, die Sommernacht war lau und ich leicht angetrunken. Und wer schwebt an mir vorbei, in männlicher Begleitung sowie Russenaugen? Genau. Alles vollkommen so, wie man es sich vorstelle, Klischee-Boheme im Klischee-Stadtviertel, von Bar zu Bar fliegend. Schön, dass Yvonne Caldenberg mir sagt, dass Frau Herrmann auch noch eine andere Seite hat. Eine normale.

Treutwein
21.03.2002, 12:08
Gestern stellte Wiebke Puls im Neuen Cinema am Hamburger Steindamm ihren Liederabend "Jour Nix - ein kleines Fest der Tristesse" vor. Puls sang Lieder der Jugend und der Peinlichkeit, Nena, Heinz Rudolf Kunze und so, es war alles sehr schön und langweilig und gnadenlos uncool. Judith Herrmann kam beinahe zu spät, schob sich durch die schon geschlossene Tür, war rank und schön, wie ein trauriger Vogel, wie Judith Herrmann, nein, es schien wirklich Judith Herrmann zu sein. Sie und ihr Begleiter nahmen zwei Plätze ein, es gab nur noch schlechtere, lauschten der Musik, manchmal sprach ihr Begleiter zu ihr, und Herrmann sah ihn mit großen Augen an, gelangweilt, traurig.

Judith Herrmann ist der Überdruss, schön.