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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Schröder, Gerhard (Geschichte machen. . .)



Tristram Shandy
19.07.2001, 17:21
Bonn, 27.9.1998, 18:30.
Der Abend der Bundestagswahl. Gerhard Schröder lässt sich vor der Bonner SPD-Parteizentrale vom Wahlvolk bejubeln. Soeben ging eine Ära zuende. Die Ära Helmut Kohl. Ein historischer Moment. Ein großer Moment.
Hinter der Bühne drängeln sich die Kamerateams, und ganz klein, im Hintergrund, der mit dem blaukarierten Hemd, da könnt Ihr ihn erkennen. Das ist Tristram, der im Auftrag des TV-Formats eines deutschen Nachrichtenmagazins O-Töne vom neuen Kanzler einfangen soll. Die erwartet staatsmännischen Worte sind gefallen, raus mit der Cassette, den Runner ins Bonner Studio schicken und ab per VBN nach Hamburg, damitâs um 22:00 in der Sendung ist. Prima.
Aber das Magazin wäre nicht das Magazin, wenn es nicht auch interessiert wäre an der Geschichte hinter dem Wahlsieg, dem human touch dieses historischen Tages. Also galt es rauszufinden, was am nächsten Tag die ganze Welt, an diesem Abend jedoch noch keiner wusste: Wo feiert der Kanzler mit seinen Mannen den epochalen Wechsel in der Geschichte unseres Landes? In der Parteizentrale? In einem Hotel? In der Bundestagsfraktion?
Ich habe in Bonn studiert, kannte mich ein wenig aus und hatte eine Idee. Gerhard Schröder kommt aus Niedersachsen, also könnte es doch sein, dass er in der Landesvertretung Niedersachsen feiert, in der ich mal als Student Stühle und Tische für das dortige Sommerfest aufgebaut habe. Einfach mal hinfahren, es ist ja sowieso alles Kür, die Pflicht war ja erledigt. Ab ins Auto und zur Landesvertretung. Alles erleuchtet. Volltreffer.
Die 100 Kamerateams hatten sich auf drei reduziert. Ein spanisches (weiß der Geier, wie die dahingefunden hatten), die Kollegen vom NDR und wir. Die anderen mussten draußen bleiben. Nur Tristram hat noch beste Beziehungen zum Hausmeister, mit dem er vor Jahren Unmengen an Gartenmöbeln geschleppt hatte und darf tatsächlich rein (³aber wenn der Schröder kommt, müsst Ihr sofort wieder raus!ã). Is klar, Meister. Erst mal reinkommen, dann weitersehen.
Dann kam er. Unter dem Applaus der Draußenstehenden begibt sich der Kanzler nebst seiner Gattin in die Landesvertretung. Und wir filmen das satt von innen ab. Strike.
Und jetzt kommen die Sätze, die mich überhaupt dazu berechtigen, diese Geschichte hier zum Besten zu geben (denn beruflich ist ja bekanntlich verboten):
³Ahhh, die Kollegen von XXXXXXX TV! Mein Vorgänger hat mit Ihnen ja nicht geredet. Das wird jetzt anders werden. Allerdings hatten wir uns geeinigt, dass hier nicht gedreht wird. Wenn Sie die Kamera ausmachen, sind Sie mir als Privatpersonen herzlich willkommen. Dann können wir ein Bier zusammen trinken. Danke!ã
Wir waren eingeladen. Vom Kanzler. Am Vorabend einer neuen Epoche. Zum Biertrinken. Dabei sein, wenn Geschichte geschrieben wird und die größte Party des Jahrhunderts steigt. Yippieh. Kamera ins Auto und ab ins Getümmel.
Getümmel? Ihr Lieben, es waren vielleicht 15 Leute anwesend. Gerhard, Doris, der Hausmeister, ein paar niedersächsische Beamte und drei Journalisten (wir). Es gab eine Gulaschkanone und Einbecker Bier. Und einen Fernseher, auf dem ich neben Herrn Schröder die Hochrechnungen anguckte. Im Laufe des Abends füllte sich das Ganze, so dass ca. 50 Leute anwesend waren. Rudolf Scharping kam gegen 22:00. Oscar Lafontaine kam um 22:30 und ging um 22:35. Gerhard unterhielt sich mit einigen Getreuen aus Niedersachsen. Doris unterhielt sich aus Verzweiflung mit uns (³einerseits ist es toll für uns, andererseits ist es nicht so gut für die Familie, denn ich bleibe ja in Hannover...ã).
Es gab keine Musik, keine Kapelle, keinen CD-Player. In der Niedersachsenstube im Untergeschoss wurde ein Schnaps ausgeschenkt. Das warâs.
Die neue Republik kann nicht feiern. Ich habâs am eigenen Leibe erfahren. In den nächsten Tagen stand in der Zeitung, dass man bis 5 Uhr morgens in der Niedersachsenstube gezecht hätte. Das ist gelogen.

(Beitrag wurde von Tristram Shandy am 19.07.2001 um 16:30 Uhr bearbeitet.)

Andrea Maria
19.07.2001, 17:25
Sehr schön erlebt, Tristram. Dickes Lob aus Wien, wo man zwar feiern kann, aber sonst nichts.

Edmund
19.07.2001, 18:47
Impeckabel, Herr Shandy!
Und SIE wollten uns weis machen, Sie haetten Ihr 'Pulver' 'verschossen'....

Angelika Maisch
19.07.2001, 19:52
Aah, ein neuer Tristram Shandy Strang.
Wie ich DAS genieße. Möge er abermals explodieren, ausufern, Grenzen sprengen.
Unglaublich, wie du wieder nah dran warst, Master Shandy. Mit dem frischen Kanzler, nun, fast schon gezecht, kann man sagen.
So gut das eben geht. Sei froh, daß es kein Kanzler von der CSU war, bei dem dann anfallenden Besäufnis wäre dir keine einzige Gehirnzelle übriggeblieben.

DerCaptain
20.07.2001, 01:11
Großartig, Shandy! Und, Frau Maisch, kündigt sich da eine neue Geschichte an?
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(Beitrag wurde von DerCaptain am 20.07.2001 um 00:11 Uhr bearbeitet.)