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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Vogel, Jochen (Schnee und Irrtum)



bAbC
17.06.2001, 11:55
Es war in der Woche vor Weihnachten 1991. Meine Eltern hatten mich eingeladen, mit Ihnen zusammen im Bayrischen Wald Urlaub zu machen, genauer gesagt: in Alt-Reichenau. Da ich Schnee und meine Eltern über alles liebe, sagte ich freudig zu und kaufte mir ein Paar Langlaufskier, denn das ist die bevorzugte Sportart im Bayrischen Wald. Statt Pisten gibt es dort überall Loipen, kreuz und quer gezogen durch sanfte verschneite Hügel mit Unmengen Wald drumherum. Für jemanden, der einigermaßen unsportlich ist (wie ich), ist Langlauf wesentlich gesünder, da ungefährlicher, als Abfahrt-Ski (oder wie immer das in Fachkreisen heißen mag). Es ist auch nicht vonnöten, sich in durchgestylten Kreisen zu bewegen, die auf Anhieb erkennen, ob der Skianzug aus der Kollektion des letzten oder vorletzten Jahres stammt. Eigentlich ähneln die Langlaufanzüge eher Trainingsanzügen und das ist auch gut so, denn man schwitzt und schnauft gewaltig, selbst wenn man sich auf ebener Strecke vorwärtszieht.
Gefährlich wird es dann, wenn es bergab geht, und sei es auch nur ein popeliges Gefälle von 5%, denn das Bremsen mit Langlaufskiern ist einigermaßen schwierig, zumindest für einen Anfänger wie mich. Und so erzählt man sich in Langläuferkreisen weniger von gebrochenen Beinen als von gerissenen Kreuzbändern. Wo tut man das? Abends in einer Hütte beim Bärwurz, einem wahrhaft widerlich schmeckenden Schnaps, der hauptsächlich aus Sellerie zu bestehen scheint, und dessen Name nicht vom netten Bären sondern von 'gebären' kommt, also angeblich wehenfördernd ist. Dort (also in der Hütte, nicht im Kreißsaal) saß ich dann inmitten einer Runde von 50- bis 60-jährigen, den Bekannten meiner Eltern, und kam mir bis zum vierten Bärwurz noch reichlich deplaziert vor. Der fünfte Bärwurz ließ mich dann schlagartig um 20 Jahre altern und es wurde doch noch ein gemütlicher Abend. Fragt mich aber bitte nicht, worüber man gesprochen hat.
An einem dieser Tage beschloss die Clique, die Skier daheim zu lassen und sich zu Fuß in die nahegelegene Tschechei zu begeben. Die Sonne strahlte, der Schnee blendete und wir tippelten ( so sagt man bei uns daheim zum gemütlichen Spazierengehen) in gelockerter Formation durch die wunderschöne Landschaft. Die Grenze zur Tschechei war unspektakulär, ich kann mich nicht einmal erinnern, ob es ein Grenzhäuschen gab oder nur eine Schranke, um die man herumlaufen mußte. Indes, die andere Seite sah genauso aus wie die, von der wir gerade gekommen waren, und wir hofften nun, daß wir bald an eine Gaststätte kommen würden, wo wir uns mit Suppe oder Tee erwärmen konnten.
Irgendwann wurden wir von einem älteren Herrn überholt, der stramm marschierte, wandererprobt, zünftig gekleidet. Bis heute habe ich geglaubt, daß es Carl Carstens gewesen sei. Außerdem habe ich geglaubt, daß sich das Ereignis 1994 oder 1995 zugetragen hat. Ehe ich meine Erzählung für das Forum niederschreiben wollte, habe ich allerdings Google konsultiert und mein Erstaunen war nicht gering, als ich las, daß Carl Carstens 1992 gestorben ist. Ja, Himmel! Sollte ich all die Jahre statt einer Prominentengeschichte eine Spukgeschichte im Kopf gehabt haben? Ich fing fieberhaft an, zu rechnen: wann bin ich Alt-Reichenau gewesen? Hatte ich da schon in Augsburg gewohnt? War ich nicht doch vor 1992 im Bayrischen Wald gewesen? Woran war Carstens gestorben? Nach langer Krankheit? Oder erst Ende 1992? Übrigens traurig, daß Google gerade mal zwei Links zu einem unserer (wenn auch keineswegs bedeutenden) Bundespräsidenten auflisten kann.
Es half alles nichts, ich mußte meine Eltern anrufen. Zuerst einmal versuchte ich aus Ihnen herauszubekommen, wann wir zusammen im Bayrischen Wald gewesen waren. Mama: Das war, als ich im Krankenhaus war! ³Nein, Mama, da warst du ganz fidel, glaub mir!ã Ich lag im Krankenhaus mit einem Kreuzbandriss und du hast mich besucht! ³Ja, Mama, aber das war vorher oder nachher. Als wir zusammen da waren, warst du putzmunter.ãMein Vater: Das war 1991. ³Sicher?ã (Ha, dann hatte ich doch keinen Geist gesehen! Es war Carstens! Jetzt versuchte ich, aus meinen Eltern die Erinnerung an diese Begegnung herauszukitzeln: ³Könnt ihr euch noch erinnern, daß wir bei dem Spaziergang in die Tschechei Carl Carstens getroffen haben?ã Jochen Vogel. Ich war wie vom Blitz getroffen und versuchte, meinem Vater Carl Carstens zu suggerieren, doch er beharrte darauf: Jochen Vogel. Mit seiner Frau. Nein! Mit Frau? Nicht Carstens, sondern Vogel? Und dann noch mit Frau, nicht allein? Ich war erschüttert und bin es noch. Ich sitze hier und frage mich, ob ich mich an irgendwas in meinem Leben überhaupt noch zuverlässig erinnern kann. Mich wundert gar nichts mehr. Ich wage nicht, meine Mutter nach Hermann Brood zu fragen. Vielleicht stellt sich raus, daß es doch nur die Rolling Stones waren. Und daß sie nicht nach Wodka, sondern nach Kamillentee verlangt haben.
Also: Irgendwann wurden wir von einem älteren Ehepaar überholt, das stramm marschierte, wandererprobt, zünftig gekleidet.
Als die Gaststätte in Sicht kam, sahen wir das Ehepaar durch die Tür verschwinden. Ah, geöffnet, welch ein Segen. Als wir jedoch ankamen, war kein Tisch mehr frei und wir mußten hungrig und durstig den Heimweg antreten. Auf ebendiesem sah ich noch etwas Schreckliches und etwas Trauriges: Das Schreckliche war ein Pferd, das, eingespannt in eine Kutsche, auf der vereisten Straße gestürzt und ins Geschirr verheddert, nicht imstande war, allein wieder auf die Füße zu kommen. Der Kutscher stand daneben und war dabei, das arme Pferd auszuschirren. Gottseidank hatte es sich wohl nichts gebrochen, sonst wäre ich hysterisch geworden. So heulte ich nur ein paar Tränen und ließ mich dann von der Gruppe weiterziehen.
Kurz bevor wir die Grenze nach Deutschland erreichten, sah ich etwas Trauriges: Da stand ein Mann hinter einem Tapeziertisch voller Orden und Anstecknadeln der russischen und tschechischen Armee. Er sah recht ärmlich aus und wir wohlgenährten Deutschen standen vor seinem Tischlein und höhnten über den Niedergang des Kommunismus. Pfui! Schließlich kaufte ich, nicht aus Mitleid, sondern aus sonst einem Grund zwei Plaketten, die ich auch einige Zeit am Revers trug, bis es mir albern vorkam.
Jochen Vogel, tse! Carl Carstens wäre mir lieber gewesen. Aber man soll ja nicht ohne Not lügen.

Frau H aus B
17.06.2001, 12:36
Heißa!

Angelika Maisch
17.06.2001, 12:37
Frau Königin, Ihr seid die Größte hier.
Und kein Schneewittchen über den sieben Bergen bei irgendwelchen Zwergen ist jemals größer als Ihr.

Ignaz Wrobel
17.06.2001, 12:51
Sehr komisch, diese Geschichte, sie beweist, finde ich, daß eine gute Paparazzistory eigentlich auch ohne den real Papparazzten auskommt, vielleicht ist das überhaupt die hohe Kunst?

Lodda de Luxe
17.06.2001, 15:06
Ach, ja wundervoll, ich konnte alles GENAU vor mir sehen, denn ich habe mal eine Klassenfahrt nach Alt-Reichenau unternommen.(Für die Direktion der ersten Kieler Ganztagsschule schien dieses Ziel exotisch genug für uns pubertierende Fischköppe...)Es war grauenhaft, wir mussten auch den ganzen Tag wandern, auch in Richtung Tschechei durch den Wald latschen und Bärwurz kannten wir nur aufgrund seiner Wirkung auf unsere entnervten Lehrer am Abend. Einmal musste man den wackligen Holz-Aussichtsturm besteigen. Kennen Sie den? Ich habe dort oben, 13 Jahre jung, erkennen müssen, dass ich an extrem ausgeprägter Höhenangst leide - bei uns anne Ostsee gabs ja solche Höhen gar nicht, wo man das hätte feststellen können...das einzig Spannende waren die schicken Jungs der Schulklasse aus Mettmann oder wo auch immer her, die mit uns das Wanderschicksal teilten...aber gut, ich schweife ab in selige Jugenderinnerungen...
Sehr schöne Geschichte, ich habe mich wunderbar amüsiert und Herr Wrobel hat wirklich recht!!!

Tex Rubinowitz
17.06.2001, 15:08
Ich finde diese Geschichte sehr wohltuend, in Zeiten von rosenbergschen Ironieattacken, andererseits fände ich sie auch ohne Posirosi gut, und Dein Peter Maffay Bashing ist schon fast vergessen.

Edmund
17.06.2001, 15:13
Ein Lobesreigen? Hei, da möcht ich mittanzen!
Facettenreiche Thematik, überzeugende Dramaturgie, Abscweifen so wie ich es mag
Mit Carstens geht's mir wie fast allen: War da noch was außer Wandern?
Jochen Vogel dagegen ist wacker. Lebt er noch?
------------------
Millionen feiern Goldt,
Edmund

lacoste
17.06.2001, 23:56
Da war durchaus noch etwas Anderes als Wandern, Edmund!
Mich freut's gigantisch!

Pomito
18.06.2001, 00:25
Verehrteste,
ich beuge mich herab zur altpersischen Proskynese, dem Hofknicks Alexanders des Grossen - nicht nur, dass sie uns das Leben in Velbert plastischst zu schildern vermögen und den FETTDRUCK im Zwischennetz beherrschen (was wurmige Wenige wie meine Verschwindenheit nicht einmal ansatzweise ausführen könnten) - nein, auch mit Bärwurz und Ex-Präsidenten/Justizministern/SPD-Klarsichthüllen-Oberlehrern kennen Sie sich aus. Respekt.
Hat Spaß gemacht.
Aber eins: Sagen Sie nicht mehr 'Tschechei', das sagte meine Oma immer und sie meinte es - entgegen Ihren zweifelsfrei allerreinsten Motiven - eindeutig
übelwollend-revanchistisch. Und sie sagte auch noch andere Dinge, aber die gehören hier nicht hin.
Ergeben
Ihr
Pomito

frosch2
18.06.2001, 01:25
Dem Tschechen ist es gleichwohl gleich.

rron
18.06.2001, 01:57
lurchi, was dem Tschechen gleich ist, das wollen wir ihm doch besser selbst überlassen.
Egal, worauf ich hinauswollte ist Widerstand.
Die wohlfeile Mamselle bAbC und ihrergleichen absinthparalysierter Hauptstadthaufen beliebt, den Bärwurz zu dissen.
Trank der Götter, respektive einiger Scharfrichterbeilpreisträger; Nektar diverser Winterolympiadengutabschneider. Den Bärwurz zu verachten, heißt, ihn nicht zu mögen. Carstens hin, Vogel her, Bärwurzverachter werden in dieser Republik niemals über den Rang eines Paparazziertennichterkenners hinauskommen.

Bartholmy
18.06.2001, 02:04
'Den Bärwurz zu verachten, heißt, ihn nicht zu mögen.'
Ein sehr klarer Satz. Vor allem, weil ich jedes Substantiv (m) für 'Bärwurz' einsetzen kann, und trotzdem ist der Satz nicht verkehrt. Solche Sätze sind sehr nützlich.
Auf der anderen Seite: Weder Carstens, noch Vogel mochte ich je. Dafür aber diese Geschichte sehr.
P.S.: Ich sage häufiger 'Tschechien', lieber aber 'Tschechei' - da klingt das Land gleich viel lieber.

frosch2
18.06.2001, 02:22
Als Tschechien in den 90ern erfunden wurde, befragte ich dazu einen alten Bekannten in Prag sowie zwei Industrielle aus Mähren. Mit o. g. einstimmigen Ergebnis.
Die Geschichte aus dem Bayerischen Wald gefällt mir sehr gut. Langlauf und Bärwurz. Letzterer wird übrigens ausschließlich in Gläsernen Destillen hergestellt, um dann in blickdichte Steingutflaschen gefüllt zu werden.

Pomito
18.06.2001, 11:08
Dem Tschechen mag es gleich sein, aber von der Tschechei ist es nicht weit bis hin zur Rest-Tschechei.
Solange der Tscheche sich nicht nicht selbst als Bewohner der Tschechei beschreibt, solange heisst's Tschechien.
(Aber ich langweile und lenke ab von einer Geschichte, die möglicherweise den Beginn einer neuen Meta-Paparazzistories-Flut darstellt.)

asparagus
18.06.2001, 11:54
tschechien oder tschechei ist doch einerlei.
mit so einer unsinnigen wortklauberei wird die würde dieser wunderbaren geschichte genommen, welche einen an tristen sommertagen in eine vorweihnachtliche winterstimmung hinein verzaubert.(-knisterndes kamminfeuer-)
die lustigste Carl Carsten Geschichte gibt es hier:
http://www.alles-bonanza.net/forum/showthread.php?s=&threadid=10523
unbedingt hochwuchten auch wenn erst montag ist.

rron
18.06.2001, 11:57
Bartholmy: Wer glaubt, Beliebiges anstelle des charaktervollen Destillats einsetzen zu können, ist ein Bärwurzverächter.

bAbC
18.06.2001, 12:22
So, schnell geantwortet, solange der Strang gerade ganz oben ist (Niemand soll mich je des Hochwuchtens eigener Geschichten bezichtigen dürfen).
Also: Fürderhin gelobe ich, statt 'Tschechei' Tschechien zu sagen. Ist mir ein Leichtes und tut keinem weh. Aber dann auch Slowakien statt 'Slowakei', right? Oder gibts die Slow.. ähm.. gibt es Slowakien nicht mehr? Doch, schon, gell?
Was den Bärwurz betrifft: ich habe mehr Bärwurz in meinem Leben getrunken als so manch andere Frau vergleichbaren Alters und gleicher Schuhgröße, und ich sage 'nein' zum Bärwurz.
P.S. den hölzernen Hochstand kenne ich nicht, wohl aber einen Hügel mit dem Namen 'Dreisessel', den wir erklommen, um direkt neben dem Kaminfeuer in der Gaststube wunderbar duftige und duftende Dampfnudeln mit Mohn und Vanillesoße zu genießen, während draußen so dichter Schnee fiel, daß die Väter die Stricke an den Schlitten auf Armeslänge verkürzen mußten, weil sie sonst ihre Sprößlinge nicht mehr gesehen hätten. So ein Winter war das, jaja.

O de Cologne
18.06.2001, 12:23
---babc schrieb zeitgleich.-ich lass meins trotzdem stehn---
babc fand das zeug 'wahrhaft widerlich'. und das ist ihr gutes recht.
und wenn sie 'tschechei' sagt, ist sie noch lange keine revanchistin.
sie könnte auch über schlesien, pommern und ostpreussen schreiben, wenn es in die geschichte gehört.
ps: in der ddr wurde auch tschechei gesagt, ohne dass wir einen überfall planten. obwohl es damals sogar tschechoslowakei hätte heissen müssen.
BITTE MEHR SCHRIFTSTELLERISCHE FREIHEIT!
und weniger sorge um wahrhaftigkeit und richtigkeit.

(Beitrag wurde von O de Cologne am 18.06.2001 um 11:27 Uhr bearbeitet.)

frosch2
19.06.2001, 01:06
Tschechien klingt mir zusehr nach Stettin.

Pomito
19.06.2001, 01:06
@OdC
Ich habe bAbC ausdrücklich vom Revanchistenvorwurf ausgenommen - aber eine gegenteilige Unterstellung läuft für sie, OdC, wohl unter schriftstellerischer Freiheit.

Treutwein
19.06.2001, 01:06
Gott, was für eine schöne Geschichte! Aber: Liegt Reichenau nicht am respektiive im Bodensee?
Es heißt tatsächlich Tschechien. Wie es sich dagegen mit dem östlichen Nachbarland verhält, weiß ich nicht zu sagen, aber man sollte Industriellen aus Mähren auch nicht alles glauben (wo liegt eigentlich Mähren?).

frosch2
19.06.2001, 01:06
Kurz vor Schindmähren, südlich der Kaschubei, westlich der Walachei.

Edmund
19.06.2001, 01:06
(Einige irrelevante Kommentare zum Höherhängen von bABc's Geschichte)
Fröschlein,
stimmt das wirklich, dass man den polnischen Namen von Stettin (ungefähr: Sczcseczsyen) wie 'Tschechien' ausspricht? Supi Eselsbrücke!
Nach dem Zerfall des altes Doppelstaates wurde ja zunächst versucht, 'Tschechische Republik' als Tschecheivermeidungsnamen durchzusetzen. Zum Glück vergeblich.
Die okayeste aller Staatsformen sich derart ostentativ auf die Stirn zu schreiben, finde ich armselig und verdächtig. Das ist so wie Lokale, die sich 'gemütliche Kneipe' aufs Schild schreiben.
O de Cologne schrieb:
>>ps: in der ddr wurde auch tschechei gesagt, ohne dass wir einen überfall planten.<<
Huch, fast hätte ich alter 68er mir jetzt Sorgen gemacht um die
>>wahrhaftigkeit und richtigkeit<<
Mag's furchtbar Gern,
Edmund

Ruebenkraut
19.06.2001, 01:06
@Edmund: Wieso ist die Republik die 'okayeste aller Staatsformen'? Oder hieß es 'Tschechische Anarcho-Demokratie'? Fände ich übrigens viel besser als 'Gemütliche Kneipe'. Nur so dahin gesagt (sollte keine Besserwisserei sein).
Bei der Diskussion über alte, vermeintlich schon gestorbene berühmte Persönlichkeiten (Carstens, J. Vogel), stieß mir folgendes auf:
'Wie eine Hand, die aus einem Grab heraus nach einem greift. Das empfindet man nun einmal, wenn man in der Zeitung auf eine Meldung über Leute stößt, die einst berühmt und populär oder berüchtigt waren und von denen man dachte, sie wären längst tot. Aber sie scheinen weitergelebt zu haben, in einer geschrumpften, verdunkelten Form, unter einer Kruste von Jahren, wie Käfer unter einem Stein.'
Von wem es stammt, verrate ich im Buchstrang, wenn ichs ausgelesen habe.

trumich
28.06.2002, 17:08
..

Goodwill
29.06.2002, 13:59
Da, wo ich als Kind gewohnt habe, gab es eine Baumschule. Sie grenzte in unserer Straße an einige moderne Sechsfamilienhäuser und gleich daneben an eine Reihe von kleinen Bungalows mit hohen Gartenmauern. Nur zur Baumschule hin stand ein kleiner Zaun. In den Bungalows lebten zum Teil die, denen die Sechsfamilienhäuser gehörten. In den Sechsfamilienhäusern war es aber lustiger.

Weil in dem Haus, in das ich gezogen war, auch noch relativ viele andere Kinder wohnten, spielten zwei Nachbar-Väter jedes Jahr im Dezember Nikolaus und Knecht Ruprecht. In München macht man das so: Man verkleidet sich mit Bischofsmütze, Goldumhang und Rauschebart beziehungsweise mit Fellmütze, Sackjacke und Ruten. Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die beiden Nachbar-Väter zündeten einfach nur eine Fackel an und stapften vor aller Kinderaugen langsam und feierlich durch die Baumschule. Mehr nicht. Immerhin reichte das, um dem Glauben ans Christkind Fundamente aus Schlittenkufenstahlbeton zu verpassen, und um uns Kinder in eine Art Weihnachtswahnsinn fallen zu lassen. Sobald es Advent wurde, stand die Baumschule jedenfalls unter verschärfter Beobachtung.

Zu jener Zeit plante München gerade die Olympischen Spiele. Die Stadt wuchs sich noch zur Millionenstadt zurecht. Oberbürgermeister war Hans-Jochen Vogel und im Winter gabs noch Schnee. So lang ist das schon her.

In dem Jahr, von dem ich hier berichte, war die Baumschule besonders dicht eingeschneit. Der Mann, den wir manchmal nach Einbruch der Dunkelheit dabei beobachten konnten, wie er sich an Jung-Zwetschgen, Junior-Blautannen und Mini-Rosenstöcken vorbeiquetschte, hatte jedenfalls ganz schön zu kämpfen. Es verwirrte uns ein wenig, dass er einen normalen und keinen Purpurmantel trug. Von Fackeln hielt er nichts. Er hatte auch keinen Bart. Als ich meine Eltern ängstlich fragte, was denn der Mann da so spät in der Baumschule mache, bekam ich trotzdem keine Antwort, mit der ich etwas anfangen konnte. Aber das Treppenhaus-Getuschel um diesen Mann schwoll in der Folge venehmbar an. Ich, ein sogenannter Zugroaster, lernte in dieser Phase meines Lebens das bayerische Wort fensterln.

Es verhielt sich nämlich so, dass Herr Vogel zu jener Zeit eine Affaire mit einer ebenfalls unglücklich verheirateten Dame aus einem der Bungalows unterhielt. Der Weg durch die Baumschule und dann am Zaun entlang erleichterte wohl so manches. Auch später, als es schon längst wieder Sommer war. Noch etwas später heiratete Herr Vogel unsere ehemalige Bungalow-Nachbarin.

Herr Uffelmann
29.06.2002, 14:38
Was für ein Spaß!
Erst jetzt habe ich, werte bAbC, Ihre schöne Geschichte entdeckt und mich prächtigst amüsiert.
Dann kommt Godwill vorbei und setzt noch einen Knaller drauf. Schön das.

DerCaptain
29.06.2002, 20:58
Sozusagen eine Kirsch, nein, eine Vogelbeere. Herrlich.

Lenin
02.07.2002, 02:13
Der Goodwill wieder! Paparazzt den schneestapfenden Vogel auf dem Weg zur Schäferstunde in den Bungalow! Schnee und kindlicher Irrtum. Jetzt erst gesehen. Wann wird's mal wieder richtig Winter?