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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Balle, Dr. Theo



Bartholmy
15.06.2001, 01:26
Ich war 16 und hatte meine ersten Schreibversuche hinter mir. Da gab es einen Literaturwettbewerb für Schüler in Baden-Württemberg und ich nahm teil. Einen Preis habe ich auch gewonnen, irgendwo ist vielleicht sogar noch die Urkunde, in einer Mappe aus der Schulzeit. Was ich damals dort eingereicht habe, weiß ich nicht mehr. Es wird halt eine Short Story gewesen sein.
Jedenfalls bekam ich die Einladung zur Preisverleihung. Sie fand in einer Art Palais in Bad Cannstatt statt. Cannstatt kannte ich sonst nur vom jährlichen Wilhelma-Besuch der Familie her und vom Cannstatter Wasen, klar. Allein marschierte ich an einem sonnigen Tag durch Cannstatt, wunderte mich noch, dass es da wirklich einen Ort mit Häusern gab und nicht nur Tiere und Achterbahn und ging zufrieden mir zu dem Palais: Allein in Cannstatt.
Es gab ziemlich viele Preise. Die Prämierten war alle so mein Alter, plus minus. Seltsamerweise waren fast alle mit ihren Eltern gekommen, auch das nette Mädchen an meinem Tisch im Saal, in die ich mich gleich verliebte, mit der ich mich schön unterhielt und die ich nie mehr danach gesehen habe (klein, blond, hübsch, gute Bewegungen, witzig - wo bist du, wer warst du?)
Im Saal merkte ich schnell, langhaarig und freakyesk wie ich damals war, dass das ein Autorenverband der etwas anderen Art war, der den Preis ausgelobt hatte - war mehr so CDU, Kalter Krieg und Vertriebene, oh je.
Mit der Urkunde erhielt ich das Buch eines auch anwesenden DDR-Dissidenten - Jürgen Faust o.s.ä., eine Dokumentation über seine Zeit im Stasiknast. Aus damaligem Prinzip des das nicht Mögens, hab ich es nie gelesen und es auch bald weggeschmissen. Ganz gleich aber auch nicht - irgendwie war ich ja doch stolz, den Preis bekommen zu haben und das signierte Buch dazu, von einem echten Schriftsteller, den ich sogar gesehen hatte.
Bei der Verleihung spielte noch eine Musikerin, die auch Malerin war. Sie war ca. 45, hatte langes blondes Haar, sah sehr gut und sehr einschüchternd aus. Nach dem Klimbim gab es Essen. Mehr zufällig landete ich mit zwei Altersgenossen am Promitisch, neben der Künstlerin (Name fällt mir ums Verrecken nicht mehr ein - war aber sehr adelig - mit 'von' und ein Vorname wie 'Undine' o.s.ä.).
Am Tisch jedenfalls auch der Grußredner des Abends, Dr. Theo Balle, klein, stämmig, rundlich, energisch und lustig, damals Abgeordneter, Staatssekretär oder Minister und ein ganz hohes Tier in der Südwest-CDU, das sogar uns Jugendlichen ein Begriff war.
Er zeigte sich leutseelig, versuchte mit uns Jungen ins Gespräch zu kommen und fragte uns, was wir einmal werden wollten. Irgendetwas werden wir geantwortet haben, worauf er anhob - er war Dr. jur. - über seine Studienjahre in Tübingen zu erzählen. Eine sehr harte Zeit sei es gewesen, nichts zu essen, kaum Kleider am Leib, frierend in der Vorlesung, damals, nach dem Krieg.
Während er das ausmalte, nahm seine Strahlung laufend zu. Sein Gesicht rötete sich, die Arme schwangen, das Essen stellte er fast ein, die Backen zitterten. - Nach einer kurzen Pause sah er nachdenklich auf seinen Teller, schwieg immer noch, schwang dann jäh den Kopf wieder zu uns und meinte, es habe sich aber gelohnt, diese Zeit. Und vor allem hätten sie, die Jus-Studenten, damals alle, alle gewusst, dass diese Zeit bald vorbei sein würde und sie danach alles, alles, alles haben können würden. Was er mit lautem Lachen auskleidete, sich wieder seinem Essen widmete, im Kauen aber nochmals zu uns hoch sah und ergänzte, wir hätten es da natürlich ungleich schwerer. Uns ginge es jetzt gut. Jetzt.

Ignaz Wrobel
15.06.2001, 09:52
Ein nicht unwahres Wort des Dr. Theo Balle, das er in seiner ganzen Tragweite vermutlich nicht ermessen hat. Meine Mutter meinte in ähnlichem Zusammenhang: 'Ihr braucht mal einen Krieg!', auch sie verband es mit der Erwartung, wir müßten ja eigentlich die ganze Zeit über glücklich und dankbar sein, wie vermutlich Dr. Theo Balle. Daß wir unsere eigenen Kriege hatten, hat diese Generation nicht verstanden.

rogntuedue
16.06.2001, 00:08
Dr. Balle bin ich nie begegnet. Ich erinnere mich aber an das Gesicht, auf Wahlplakaten. Er sah immer sehr selbstzufrieden aus. Die Geschichte belegt das ja auch. Daran freut mich, daß Wahlplakate manchmal auch die Wahrheit sagen.
Aus Bad Cannstatt kommen übrigens, wenn ich mich nicht vertue, Joschka Fischer und Cem Özdemir.

rogntuedue
16.06.2001, 00:29
Nachtrag, weil es mir keine Ruhe ließ:
Dr. Balle scheint noch zu leben, aber im Ruhestand zu sein. Ich habe nach einem Bild von ihm gesucht, es scheint aber im Netz keines zu geben.
Eine Anmerkung noch: Stimmen die Seiten, die ich gefunden habe, ist er nicht Dr. jur., sondern Dr. phil (Und Ex-Vorsitzender des Schwäbischen Sängerbundes).

Edmund
16.06.2001, 00:49
Das beste für einen Westdeutschen ist sowieso, 1954 geboren worden zu sein:
1957/58, als sich erstmals Neuronen zu dauerhaften Erinnerungen verknüpfen, sind die Kriegstrümmer geräumt und die Armut überwunden. Von nun an wird es immer nur bergauf gehen
1961/62 ist man noch zu jung, um Kubakrise und Mauerbau bedrohlich zu finden. Aber: das Weltbild des kalten Krieg gibt Halt und Orientierung
1966: Man ist 12 und beginnt, sich für Musik, Mode, 'Jugendkultur', etc. zu interessieren. Zum Glück hat dafür das Ende der Adenauer-Ära abgewartet.
1968/69 Die für die Entwicklung der gesamten westlichen Zivilisation wichtigsten beiden Jahre helfen über die Kläglichkeit der Pubertät hinweg
1971 Die Sexwelle kommt nicht ungelegen
1972 Endlich 18. Husch, in die Wahlkabine und Willy wählen!
1974 Deutschland wird Fußballweltmeister. Was kann es schöneres für einen 20-jährigen geben?
1973-1977 Studentenzeit. Überall öffnen sich die Türen zu nigelnagelneuen, waschbetonverkleideten Elfenbeintürmen, die man damals sogar hübsch fand. Solang man keinerlei gesellschaftliche Verantwortung zu tragen hat, kann man stattdessen Fusselbärte tragen und mit der RAF sympathisieren.
1978/79 Wirtschaftsstrohfeuer dank keynsianischer SPD-Politik. Hat man trotzdem keinen Job in der 'freien' Wirtschaft gefunden, wird rasch eine Beamten- oder Professorenstelle eingerichtet
1982 Kohl kommt. Gut, dass man schon 28 und desillusioniert ist. So kann man auch das wegstecken.
1984 Wiederwahl Reagans ('Four more years!). Wer jetzt noch Kommunist ist...
1985/86 Tenniswelle. Vielleicht eine Gelegenheit, im Clubhaus den Vater/die Mutter seiner Kinder kennenzulernen?
1988 Genug gescheffelt, um ein hübsches Sümmchen an der Börse zu plazieren.
1990 Deutschland wird zum drittenmal im gerade 36-jährigen Leben Fußballweltmeister!
1999 Nach 44 Jahren Schamfrist ziehen die Deutschen wieder in den Krieg. 'Die' Deutschen? Nein, natürlich nur die wehrfähigen, unter 45-jährigen, hihi!
2000 Anlässlich der Verzehnfachung des DAX-Wertes entschließt man sich zum Verkauf seiner Aktien.
2014 Da es immer noch genug junge Trottel gibt, die 23% Rentenbeitrag zahlen, kann man sich fortan von denen Durchfüttern lassen.
2034 Das solidarische Rentensystem bricht zusammen. Man selbst auch. Ebenso die Ölvorräte, das Klima, der Weltfrieden, etc...



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Man fand Godot,
Edmund

Hilde
16.06.2001, 01:26
Ha, Edmund, der 54er Jahrgang, dochdoch, Sie haben einen guten Geschmack.
Sie klingen sehr authentisch.
'Willy wählen', ich hab mir sogar bis heute einen Anstecker (jetzt sagt man Button) aufgehoben mit diesem Wortlaut, orange mit weißem Schriftzug. Ich bekam damals viel Ärger damit, weil ich ihn während der Arbeit trug (in einer Bank).
Aber Dr. Theo Balle kenne ich trotzdem nicht.

Bartholmy
16.06.2001, 01:38
Ein interessanter Generationenmix. Ich bin Jahrgang 1965, d.h. die erzählte Geschichte trug sich ca. 1981 zu.
Es gab einmal einen Aufsatz von Robert Gernhardt (vor Jahren), der ungefähr den Titel hatte '1965 - die letze aller guten Zeiten'. Das habe ich dann immer gerne geglaubt.
An 'Willy wählen' erinnere ich mich nicht. Sehr wohl aber an seinen Rücktritt. Ich weiß noch, dass meine Eltern, SPD-Stammwähler, sehr schockiert waren. Unser Hausmeister hatte es meiner Mutter erzählt, als ich mit ihr vom Einkaufen zurück kam, kurz vor der Haustüre - Mama war entsetzt.
Anspieltipp dazu: 'Als Willy Brandt Bundeskanzler war' von Funny van Dannen.

Ruebenkraut
16.06.2001, 01:50
Hilde, auch ich trug den Button. Meine älteren Schwestern hatten ihn besorgt. Ich mit meinen elf Jahren hatte zwar noch keine Ahnung, außer 'Barzel ist blöd', aber der Button war toll.

Angelika Maisch
16.06.2001, 01:51
Ich kenne Dr. Theo Balle auch nicht, aber die Geschichte hat mir gut gefallen.
Und Edmunds Beitrag auch.
1971 Die Sexwelle kommt nicht ungelegen.
Habe sehr gekichert.
(Geht nörgelnd ab.)

Yvonne Caldenberg
16.06.2001, 02:56
Keine Ahnung, wer das ist. Es ist aber eine wirklich schöne Geschichte.
Von Willy Brandt weiß ich nur, dass er einmal in der DDR (Erfurt?) war und vom Balkon sprach. Viele DDR-Bürger riefen ihm zu 'Willy, Willy'. Aber die Regierung hatte alles im Griff und Parteileute hingeschickt, die die Willy-Rufe jeweils um ein 'Stoph' ergänzen mussten. - So hats mir jedenfalls mein Onkel, irgendwer hab ihn selig, erzählt. Sonst weiß ich auch nichts.
P.S.: Poser Rosenberg ist eine Blödflöte. Zu seinen Sachen werde ich - toitoitoi - schon aus Prinzip nie mehr was posten.

Angelika Maisch
16.06.2001, 03:24
Blödflöte. Das gefällt mir auch.

Yvonne Caldenberg
16.06.2001, 03:34
Faust gibts als Buch. Lieber das hier lesen, tut dem Kopf besser, kommt was Neues rein.

Hugh Hefner
16.06.2001, 03:37
Mädchen mit stolzen
Höhnenden Sinnen
Möcht ich gewinnen!
Kühn ist das Mühen,
Herrlich der Lohn!

Ignaz Wrobel
16.06.2001, 05:35
Spielstand: 3:2 für lacoste

(schlaflos)

Teasa E
17.06.2001, 03:31
Brandt habe ich schon gehört, die andere nicht.
Vor einihe Jahre habe ich Jesse Jackson begegnet. Er hat auch immer gesprochen von 60er/70er Jahre und was da war.
Ich war nicht damals dabei und glaube das nicht.

Angelika Maisch
17.06.2001, 03:39
der Herr Hefner weiß wovon er redt`.

Ruebenkraut
17.06.2001, 14:31
Liebe teasa, ich hatte als Austauschschüler in den USA eine Begegnung mit Jesse Jackson, die ich hier einmal ethnologisch (Abteilung 'amerikanische Ethnologie') diskutieren würde. Aber nur, wenn Du dann auch deine Begegnung mitteilst, gebongt?

Edmund
17.06.2001, 15:25
Lieber Bartholmy,
der Gernhardt-Aufsatz heißt '1965 - Ein Portrait der leider endgültig allerletzten guten, alten Zeit' und erschein in der Titanic 4/86 und im Sammelband 'Über alles'. Große, echte, wahre schöne Literatur.
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Millionen feiern Goldt,
Edmund

rogntuedue
19.06.2001, 01:12
Nun hat mich, trotz des Glanzes aller hier antanzender int. Promis doch der Balle nicht losgelassen. ok, sorry, ich bin von da und freue mich halt eine Regionalgröße zu treffen.
Losgelassen hat mich das fehlende Bild nicht. Jetzt hab ich doch eins gefunden:
http://www.klassik.com/de/magazine/magazines/schwaebischesaengerzeitung/Cover06.jpg
Der regionalen Größe entsprechend ist er kaum zu sehn. Auf dem eingesetzten s/w Foto oben links müsste es der Herr links sein.
Lustig, dass die Suchmaschine bei der Suche nach ihm unter den ersten zehn Treffern gleich zwei lieferte, die die Überschrift 'Prominente' trugen. Also doch.

Tristram Shandy
19.06.2001, 11:11
Ich bin Jahrgang 1968; kenne also Willy Brandt nur als schlechten Sänger vor dem Brandenburger Tor und aus alten Schulzeiten; er ist mir also herzlich egal.
@ Wrobel: Meine Generation hat nie einen eigenen Krieg gehabt, weder innen noch außen. Gerade das ist doch unser Problem.
@ rogntuedue: An einigen Unis gibt es keine eigene Juristische Fakultät. Die Jurastudenten sind da der Philosophischen Fakultät untergeordnet und bekommen dementsprechend für ihre Jura-Promotion den Titel Dr. phil. Pech für titelgeile Burschenschaftskarrieristen.

Ruebenkraut
21.06.2001, 00:40
Tübingen hat eine juristische Fakultät und Jura kann man auch nur an einer solchen studieren. Aber man kann ja auch als Jurist einen Dr. phil. erwerben...

Albrecht Conz
21.06.2001, 02:01
Cannstatt! Ja, das kenn ich natürlich auch. Aber dass Joschka Fischer u. Özdemir von da sind, war mir neu.
Die Suchmaschine ergab aber noch ganz anderes. So unterschiedliche Leute wie Balzac, Helga Feddersen, Freiligrath, Goethe, Hesse, Hindemith, Napoleon III., Mörike und Porsche haben irgendwas mit Cannstatt zu tun. Für ein Kleinkaff nicht übel.
Eine lange Liste Cannstatt verschwippter Personen fand ich http://www.proaltcannstatt.de/HP.htm#Pers%F6nlichkeiten,%20alphabetisch[/SIZE]
(Beitrag wurde von Albrecht Conz am 21.06.2001 um 13:26 Uhr bearbeitet.)