Goodwill
13.06.2001, 18:10
Es war wohl so im Jahr 1985 oder «87. Eigentlich müsste ich es auf den Tag genau nachschlagen können, denn meine Begegnung mit Heiner Müller begann mit einem datierten Autogramm.
Nur: Wenn ein Mensch (also ich) in zehn Jahren etwa zwölf Mal umzieht, dabei rund fünf Mal die Stadt wechselt und zwischendurch auch mal das Land, dann ist das bekanntlich wie dreieinhalb Mal abgebrannt. Sogar ein einziger, winziger Umzug reicht theoretisch, um ein von Bleistift-Kritzeln und Handschweiß zerfressenes Müller-Rotbuch unabsichtlich dem Altpapier zu überantworten. Vielleicht wurde es auch das Beutestück eines souvenirgeilen Mitbewohners oder eines unersättlichen Partygastes. Die Menschen (also die anderen) sind ja so gemein.
Jedenfalls: Das ultimative Beweisstück für das noch zu schildernde Treffen ist fort. Genauso wie die Erinnerung an so manches Detail.
Was ich noch weiß: Ich war in jenen fernen Tagen Germanistik-Student in München und besuchte mein erstes Hauptseminar. Thema: DDR-Schriftsteller. Natürlich war es irre öd. Wochenlang wälzten wir staubtrockene Sekundärliteratur. Strebsam durchlitten wir dabei unsere gegenseitigen Vorträge. Die einen behandelten die literarischen Konsequenzen, die irgendeine XXIII. kommunisitsche Internationale nach sich gezogen haben könnte. Andere kreisten um den Solgan ÈKumpel, greif« zur FederÇ und seine Folgen. Und wieder andere begleiteten einzelne Autoren Èvon DrübenÇ auf ihrem persönlichen Bitterfelder Weg.
Man war sowas damals sich und dem fernen Osten irgendwie schuldig. Außerdem galten Autoren wie Hein, Braun und besonders Müller in jenen Jahren als Geheimtipps. Je mehr diese Vielleicht-vielleicht-auch-nicht-Dissidenten zwischen den Zeilen schreiben konnten, desto angesagter waren sie. Und der rästelhafteste, wortmächtigste und auf-allen-Bühnen-präsenteste war ja wohl Heiner Müller. Sogar wir geistig abgewichsten Germanistik-Sudenten waren von seiner Sprache und überhaupt beeindruckt.
Also begann auch ich eine Seminararbeit über Müller, genauer gesagt über ÈPhiloktetÇ. Zur Erklärung: Das Stück ist eine sperrige Antiken-Bearbeitung ohne allzuviel Action, dafür aber mit mehreren dicken Portionen Dia- und Monolog. Meine Aufgabe bestand im Sezieren. Innerhalb von wenigen Wochen glaubte ich, in detektivischer Zeilenfuchserei einige hochbrisante Dinge über Müller herausgefunden zu haben. Und die trug ich voller Verve den Überlebenden unseres universitären Gähn-Marathons in einem Referat vor.
Für mich war klar: Im Stück wiegen die Interessen des Kollektivs (Odysseus & Co.) grundsätzlich schwerer als die des Individuums. Philoktet, der mit einer stinkende Wunde seine Gefährten nervt, muss sich schließlich opfern. Und sieht das auch noch selbst ein.
Die von Müller im Stück versteckte Ideologie war deshalb meiner Ansicht nach irgendwie stalinistisch, kollektivistisch, maoistisch. Genau begründen konnte ich die These natürlich nicht. Aber referieren und zum Abschuss freigeben, das ging. Immerhin war dieser Ansatz mal was Neues. Er provozierte matten Widerspruch beim Professor und ein bißchen Schaum vorm Mund bei den Wachhunden der Marxistischen Gruppe (treffender: ÈMGÇ), die damals in den meisten politikverdächtigen Seminaren rumknurrten, alle anpissten und ansonsten Scherbenhäufchen hinterließen.
In diese Atmosphäre des akademischen Geplänkels, des theoretischen Beharkens und der gepflegten Ratlosigkeit platzte die Nachricht, dass Heiner Müller in allernächster Zeit nach München kommen werde. Zu uns, in den kapitalistischen Westen. In die Höhle des Löwen! Es hieß, er werde aus einem neuen Werk lesen. Und anschließend freiwillig wieder zurück nach Ost-Berlin fahren. Wahnsinn.
Selbstverständlich bin ich hin. Nicht zuletzt, um ihn irgendwie zu stellen und mit meiner These zu konfrontieren. Ort der Lesung war irgendein Kunstverein oder eine Galerie in der Nähe des Altstadtrings und des legendären Promischuppens ÈSchuhmannsÇ, das später angeblich Müllers Lieblingsbar in München wurde.
Die Lesung ließ die Location wider Erwarten nicht aus allen Nähten platzen. Immerhin anwesend: Theatermacher, Kulturpolitiker, Nickelbrillenstudenten, Lesedamen, Greise und mindestens ein schwarzer Hund. Müllers Art vorzutragen war mir neu. Es klang, als ob er jeweils nur den einen Satz vorlesen wollte, den er gerade las. Irgendwie mühte er sich dann aber doch noch zum nächsten Satz weiter. Der Tonfall war durchgehend schroff, so, als ob er hochgradig beleidigt wäre. Summa summarum ein hölzerner Sound ohne viel rauf und runter, aber definitiv in Moll.
Der Meister endete, der Applaus brandete. Die Caterer an ihren weißleinenen Tischen hinter der Bestuhlung, schütteten eifrig Wein in Gläser. Ich wartete. Müller durchquerte den Raum. Seltsamerweise ohne die in solchen Fällen übliche Entourage aus Schmeichlern und Selbstdarstellern. Ich zückte meinen Füller, trat auf meinen Halbgott zu, reichte ihm den abgewetzten Band und versuchte, etwas zu sagen. Müller verstand offensichtlich auch Räusperisch, den er nahm das Buch, blätterte es auf und begann an der Füllerkappe zu ziehen. Ich sagte: ÈDrehen.Ç Und so drehte Deutschlands Dichter Nummer Eins auf mein Geheiß, wunderte sich ÈohoÇ über die Tintenfarbe Rostrot und setzte in kleiner, unschöner Schrift seinen Namenszug in mein Büchlein. Wir waren immer noch zu zweit.
Ich bedankte mich und brachte den Satz ÈIch bin Student und habe gerade ein Hauptseminar über Sie mitgemachtÇ hervor. Müller lächelte schmal und zündete sich einen Zigarillo an. Seine Unterlippe haftete beim Rausziehen der braunen Rauchware feucht und obszön am Glimmstengel. Er blickte durch seine berühmte Brille mit dem dicken schwarzen Gestell im Raum herum. Seine Augen wirkten klein und übermüdet. Er sagte: ÈDazu fällt mir ein Witz ein.Ç Dann begann er, diesen Witz zu erzählen.
Natürlich würde ich heute eine Sascha-Anderson-Gesamtausgabe und alle verfügbaren Bert-Papenfuß-Lyrik-Bände für den Witz hergeben, der damals anlässlich meiner Bemerkung durch das Hirn von Mister Hamletmaschine geisterte. Aber ich war einfach nur perplex. Ich weiß noch, dass ich mir den halbkahlen Schädel Müllers ansah und dabei dachte: Je älter er wird, desto ähnlicher sieht er Goethe; wie Gerhart Hauptmann. Ob das das Merkmal aller großen Dichter ist? Außerdem weiß ich noch, dass der Witz schlecht war, dass aber trotzdem alle, die sich während des Erzählens um uns geschart hatten, bei der ÈPointeÇ kicherten, prusteten, Erstickungsanfälle vortäuschten oder sich vor Heiterkeit kaum noch auf den Beinen zu halten vermochten.
Im Grunde war ich zu diesem Zeitpunkt bereits abgemeldet. Müller ließ sich durch den Ring der Herbeigeeilten irgendein Getränk reichen. Whisky war es jedenfalss nicht. Von seinem Erfolg als Komödiant beseelt, erzählte er nun Witz auf Witz. Einen kriege ich noch halb zusammen, weil er der schlechteste von allen war. Er handelte vom Ewigen Juden, der erst mit seiner Frau Sahra aus Ägypten vertrieben wird, dann mit ihr die Zerstörung des Tempels in Jerusalem erleben muss und sich im Zug nach Auschwitz zu ihr umdreht und fragt: Sahra, kann es sein, dass du mir Pech bringst? Selbst dazu wurde gelacht. Und auch Müller schien ernsthaft amüsiert.
Irgendwann hatte ich genug gehört und gesehen. Ich war froh, nicht zum Thema ÈPhiloktetÇ gekommen zu sein. Möglicherweise hätte er dazu auch noch einen Joke reißen können. Und ich brauchte doch alles an Ernsthaftigkeit für meine Seminararbeit. Den Füller (einen Pelikan mit weicher Feder) habe ich noch lange in Ehren gehalten und eines Tages beim Briefe schreiben im Englischen Garten liegen lassen. Vor ein paar Jahren habe ich mir das gleiche Modell noch mal gekauft. War aber nicht das Gleiche.
Nur: Wenn ein Mensch (also ich) in zehn Jahren etwa zwölf Mal umzieht, dabei rund fünf Mal die Stadt wechselt und zwischendurch auch mal das Land, dann ist das bekanntlich wie dreieinhalb Mal abgebrannt. Sogar ein einziger, winziger Umzug reicht theoretisch, um ein von Bleistift-Kritzeln und Handschweiß zerfressenes Müller-Rotbuch unabsichtlich dem Altpapier zu überantworten. Vielleicht wurde es auch das Beutestück eines souvenirgeilen Mitbewohners oder eines unersättlichen Partygastes. Die Menschen (also die anderen) sind ja so gemein.
Jedenfalls: Das ultimative Beweisstück für das noch zu schildernde Treffen ist fort. Genauso wie die Erinnerung an so manches Detail.
Was ich noch weiß: Ich war in jenen fernen Tagen Germanistik-Student in München und besuchte mein erstes Hauptseminar. Thema: DDR-Schriftsteller. Natürlich war es irre öd. Wochenlang wälzten wir staubtrockene Sekundärliteratur. Strebsam durchlitten wir dabei unsere gegenseitigen Vorträge. Die einen behandelten die literarischen Konsequenzen, die irgendeine XXIII. kommunisitsche Internationale nach sich gezogen haben könnte. Andere kreisten um den Solgan ÈKumpel, greif« zur FederÇ und seine Folgen. Und wieder andere begleiteten einzelne Autoren Èvon DrübenÇ auf ihrem persönlichen Bitterfelder Weg.
Man war sowas damals sich und dem fernen Osten irgendwie schuldig. Außerdem galten Autoren wie Hein, Braun und besonders Müller in jenen Jahren als Geheimtipps. Je mehr diese Vielleicht-vielleicht-auch-nicht-Dissidenten zwischen den Zeilen schreiben konnten, desto angesagter waren sie. Und der rästelhafteste, wortmächtigste und auf-allen-Bühnen-präsenteste war ja wohl Heiner Müller. Sogar wir geistig abgewichsten Germanistik-Sudenten waren von seiner Sprache und überhaupt beeindruckt.
Also begann auch ich eine Seminararbeit über Müller, genauer gesagt über ÈPhiloktetÇ. Zur Erklärung: Das Stück ist eine sperrige Antiken-Bearbeitung ohne allzuviel Action, dafür aber mit mehreren dicken Portionen Dia- und Monolog. Meine Aufgabe bestand im Sezieren. Innerhalb von wenigen Wochen glaubte ich, in detektivischer Zeilenfuchserei einige hochbrisante Dinge über Müller herausgefunden zu haben. Und die trug ich voller Verve den Überlebenden unseres universitären Gähn-Marathons in einem Referat vor.
Für mich war klar: Im Stück wiegen die Interessen des Kollektivs (Odysseus & Co.) grundsätzlich schwerer als die des Individuums. Philoktet, der mit einer stinkende Wunde seine Gefährten nervt, muss sich schließlich opfern. Und sieht das auch noch selbst ein.
Die von Müller im Stück versteckte Ideologie war deshalb meiner Ansicht nach irgendwie stalinistisch, kollektivistisch, maoistisch. Genau begründen konnte ich die These natürlich nicht. Aber referieren und zum Abschuss freigeben, das ging. Immerhin war dieser Ansatz mal was Neues. Er provozierte matten Widerspruch beim Professor und ein bißchen Schaum vorm Mund bei den Wachhunden der Marxistischen Gruppe (treffender: ÈMGÇ), die damals in den meisten politikverdächtigen Seminaren rumknurrten, alle anpissten und ansonsten Scherbenhäufchen hinterließen.
In diese Atmosphäre des akademischen Geplänkels, des theoretischen Beharkens und der gepflegten Ratlosigkeit platzte die Nachricht, dass Heiner Müller in allernächster Zeit nach München kommen werde. Zu uns, in den kapitalistischen Westen. In die Höhle des Löwen! Es hieß, er werde aus einem neuen Werk lesen. Und anschließend freiwillig wieder zurück nach Ost-Berlin fahren. Wahnsinn.
Selbstverständlich bin ich hin. Nicht zuletzt, um ihn irgendwie zu stellen und mit meiner These zu konfrontieren. Ort der Lesung war irgendein Kunstverein oder eine Galerie in der Nähe des Altstadtrings und des legendären Promischuppens ÈSchuhmannsÇ, das später angeblich Müllers Lieblingsbar in München wurde.
Die Lesung ließ die Location wider Erwarten nicht aus allen Nähten platzen. Immerhin anwesend: Theatermacher, Kulturpolitiker, Nickelbrillenstudenten, Lesedamen, Greise und mindestens ein schwarzer Hund. Müllers Art vorzutragen war mir neu. Es klang, als ob er jeweils nur den einen Satz vorlesen wollte, den er gerade las. Irgendwie mühte er sich dann aber doch noch zum nächsten Satz weiter. Der Tonfall war durchgehend schroff, so, als ob er hochgradig beleidigt wäre. Summa summarum ein hölzerner Sound ohne viel rauf und runter, aber definitiv in Moll.
Der Meister endete, der Applaus brandete. Die Caterer an ihren weißleinenen Tischen hinter der Bestuhlung, schütteten eifrig Wein in Gläser. Ich wartete. Müller durchquerte den Raum. Seltsamerweise ohne die in solchen Fällen übliche Entourage aus Schmeichlern und Selbstdarstellern. Ich zückte meinen Füller, trat auf meinen Halbgott zu, reichte ihm den abgewetzten Band und versuchte, etwas zu sagen. Müller verstand offensichtlich auch Räusperisch, den er nahm das Buch, blätterte es auf und begann an der Füllerkappe zu ziehen. Ich sagte: ÈDrehen.Ç Und so drehte Deutschlands Dichter Nummer Eins auf mein Geheiß, wunderte sich ÈohoÇ über die Tintenfarbe Rostrot und setzte in kleiner, unschöner Schrift seinen Namenszug in mein Büchlein. Wir waren immer noch zu zweit.
Ich bedankte mich und brachte den Satz ÈIch bin Student und habe gerade ein Hauptseminar über Sie mitgemachtÇ hervor. Müller lächelte schmal und zündete sich einen Zigarillo an. Seine Unterlippe haftete beim Rausziehen der braunen Rauchware feucht und obszön am Glimmstengel. Er blickte durch seine berühmte Brille mit dem dicken schwarzen Gestell im Raum herum. Seine Augen wirkten klein und übermüdet. Er sagte: ÈDazu fällt mir ein Witz ein.Ç Dann begann er, diesen Witz zu erzählen.
Natürlich würde ich heute eine Sascha-Anderson-Gesamtausgabe und alle verfügbaren Bert-Papenfuß-Lyrik-Bände für den Witz hergeben, der damals anlässlich meiner Bemerkung durch das Hirn von Mister Hamletmaschine geisterte. Aber ich war einfach nur perplex. Ich weiß noch, dass ich mir den halbkahlen Schädel Müllers ansah und dabei dachte: Je älter er wird, desto ähnlicher sieht er Goethe; wie Gerhart Hauptmann. Ob das das Merkmal aller großen Dichter ist? Außerdem weiß ich noch, dass der Witz schlecht war, dass aber trotzdem alle, die sich während des Erzählens um uns geschart hatten, bei der ÈPointeÇ kicherten, prusteten, Erstickungsanfälle vortäuschten oder sich vor Heiterkeit kaum noch auf den Beinen zu halten vermochten.
Im Grunde war ich zu diesem Zeitpunkt bereits abgemeldet. Müller ließ sich durch den Ring der Herbeigeeilten irgendein Getränk reichen. Whisky war es jedenfalss nicht. Von seinem Erfolg als Komödiant beseelt, erzählte er nun Witz auf Witz. Einen kriege ich noch halb zusammen, weil er der schlechteste von allen war. Er handelte vom Ewigen Juden, der erst mit seiner Frau Sahra aus Ägypten vertrieben wird, dann mit ihr die Zerstörung des Tempels in Jerusalem erleben muss und sich im Zug nach Auschwitz zu ihr umdreht und fragt: Sahra, kann es sein, dass du mir Pech bringst? Selbst dazu wurde gelacht. Und auch Müller schien ernsthaft amüsiert.
Irgendwann hatte ich genug gehört und gesehen. Ich war froh, nicht zum Thema ÈPhiloktetÇ gekommen zu sein. Möglicherweise hätte er dazu auch noch einen Joke reißen können. Und ich brauchte doch alles an Ernsthaftigkeit für meine Seminararbeit. Den Füller (einen Pelikan mit weicher Feder) habe ich noch lange in Ehren gehalten und eines Tages beim Briefe schreiben im Englischen Garten liegen lassen. Vor ein paar Jahren habe ich mir das gleiche Modell noch mal gekauft. War aber nicht das Gleiche.