mart
04.04.2001, 17:01
Des Menschen Getue auf der Welt beschleunigt sich ständig. Man denke an die Möglichkeit, morgen auf der anderen Seite der Welt den Boden küssen zu können, an Olympiaden, wo immer höher gehüpft, weiter gesprungen und schneller gelaufen wird oder an das Medium, in dem wir uns hier tümmeln, das ja bekanntlich einen recht rapiden Entwicklungsrhythmus pflegt. Gesund ist das nicht: schließlich ist der Mensch für eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h konstruiert, womit diese etwas abstrakte Einleitung uns direkt in die Nähe eines Prominenten bringt, der meine Einschätzung sicherlich teilt. Ersteinmal allerdings nur in die Nähe, denn es gilt vorerst, meine ganz persönlichen Konsequenzen aus dem Gesagten zu erläutern: ich bin ein überzeugter Spaziergänger. Winters wie sommers, in der Stadt (wo es meines Wissens 'flanieren' genannt wird), auf dem Land, im Wald (hier kann es auch in Wandern übergehen), am Meer (Schwimmen ist natürlich auch super), im In- oder Ausland (egal!)...
'Langweiler!' werden die Meisten rufen. Diese Geschichte jedoch ist mein in Wort gegossener Einwand: Auf einem Weg von einer halben Stunde habe ich nicht nur meine Synapsen gelabsalt, sondern wurde mit zwei Prominenten und einem schrecklichen Vorfall konfrontiert. Als wäre das nicht schon genug für einen einzelnen Menschen, ist mir erstmals das wahnwitzige Tempo der Medienmaschinerie bewusst geworden.
Es war der Dezember 1993. Meine Route stand fest, denn es handelte sich um einen 'Zweckspaziergang', der immer dann zum Einsatz kommt, wenn nicht um des Spaziergehens willen spaziert wird, sondern ein definiertes Ziel am Ende des Weges wartet. Von dem hamburger Karolinenviertel sollte es in den kleinen Konzert-Klub 'Knust' gehen, wo irgendwer zum Tanz aufspielte. Der Weg ist recht ansehlich, führt er doch direkt durch die abends angenehm ausgestorbene Innenstadt der Schatzstadt. Es war früh, nix pressierte und ich beschloss einen kleinen Umweg zu machen, der mich am Thalia-Theater, neben dem Schauspielhaus das zweite große Haus am Platze, vorbeiführte. Vor dem Thalia: Roter Teppich und Menschenauflauf. 'Premiere', dachte ich und war schon etwas verärgert, gezwungenermaßen entweder Straßenseite oder Tempo zu wechseln. Gerade als ich die Menschen vor dem Eingang passieren wollte, fiel mir ein älterer, wohlgekleideter, weißhaariger Mann auf, der sich die Nase hielt und von zwei jungen, wohlgekleideten, schwergebauten Begleitern in die falsche Richtung geleitet wurde, nämlich weg vom Theater. Nicht die einzige Ungewöhnlichkeit: Die Gesichter des Premierenpublikums spiegelten nicht die Freude über einen gelungenen Theaterabend, sondern hatten etwas schockiertes und gleichzeitig erregt starrendes. Ich schaute also leicht verwirrt durch die Gegend und sah ein zweites Mal den Mann, der seine Nase hielt - er ging jetzt ungefähr einen halben Meter vor mir über den roten Teppich zum Auto - und da sah ich: Das ist Richard von Weizsäcker. Der Bundespräsident. Ein echter Präsident, wie ich finde. Adelig, stolz, vernünftig, mit natürlicher Autorität ausgestattet. Ein Mensch, der im Krieg noch seinen Goethe las!
'Komisch', dachte ich, rieb den Zeigefinger drei Mal unterhalb der Nase entlang, ohne auf eine Idee zu kommen, warum dieses stattliche Staatsoberhaupt, Nase haltend und überstürzt eine sicherlich schöne Premierenfeier verlässt. Ob bereits Polizei vor Ort war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls fasste ich den Entschluss, meinen Weg fortzusetzen. Von Weizsäcker war verschwunden, und ich war ja nur aufgrund des Zufalls an diesen Ort gekommen, hatte dort also nichts mehr zu suchen.
Vom Thalia führte der Weg weiter die Mönckebergstraße überquerend zu einem Gebäude, indem Radio Hamburg sein sog. 'Gläsernes Studio' betreibt. Man kann von außen den Moderatoren bei der Arbeit zuschauen und -hören. Nicht meine Tasse Tee, aber als ich in den Lauschkreis des Lautsprechers geriet, hörte ich einige Wortfetzen: 'Anschlag.... Weizsäcker... Hamburg...'. Das war's aber auch schon. Ein Konzert voller Unruhe und eine Nacht nervösen Schlafes später erfuhr ich die ganze Wahrheit: Weizsäcker hatte vor dem Thalia-Theater einen auf die Nase bekommen. Und zwar von Günter Roersch, dessen Biografie auch auf ein bewegtes Leben schließen lässt: Erst hamburger Rotlichmilieu, dann deutschen Meister im Superschwergewicht der Gewichtheber (1975) und heute praktizierender Rechtsradikaler.
Ein Glück, dass ich nicht nach einem Autogramm gefragt habe. Und auch nicht über die Wirkung von Goethe in Extremsituationen diskutieren wollte. (nebenbei: weiss jemand, weshalb der roersch so sauer war auf den weizsäcker?)
Zur Theorie des Spazierengehens sei noch angemerkt, dass dies ein Spaziergang der erheblich beschleunigten Ereignisse war und deswegen bestimmt nicht sehr gesund. Und dass der berühmte Nasenschlag bereits nach zehn Minuten im Radio übertragen wurde, ist doch eine hübsche Illustration der etwas ausgeuferten Einleitung?!
'Langweiler!' werden die Meisten rufen. Diese Geschichte jedoch ist mein in Wort gegossener Einwand: Auf einem Weg von einer halben Stunde habe ich nicht nur meine Synapsen gelabsalt, sondern wurde mit zwei Prominenten und einem schrecklichen Vorfall konfrontiert. Als wäre das nicht schon genug für einen einzelnen Menschen, ist mir erstmals das wahnwitzige Tempo der Medienmaschinerie bewusst geworden.
Es war der Dezember 1993. Meine Route stand fest, denn es handelte sich um einen 'Zweckspaziergang', der immer dann zum Einsatz kommt, wenn nicht um des Spaziergehens willen spaziert wird, sondern ein definiertes Ziel am Ende des Weges wartet. Von dem hamburger Karolinenviertel sollte es in den kleinen Konzert-Klub 'Knust' gehen, wo irgendwer zum Tanz aufspielte. Der Weg ist recht ansehlich, führt er doch direkt durch die abends angenehm ausgestorbene Innenstadt der Schatzstadt. Es war früh, nix pressierte und ich beschloss einen kleinen Umweg zu machen, der mich am Thalia-Theater, neben dem Schauspielhaus das zweite große Haus am Platze, vorbeiführte. Vor dem Thalia: Roter Teppich und Menschenauflauf. 'Premiere', dachte ich und war schon etwas verärgert, gezwungenermaßen entweder Straßenseite oder Tempo zu wechseln. Gerade als ich die Menschen vor dem Eingang passieren wollte, fiel mir ein älterer, wohlgekleideter, weißhaariger Mann auf, der sich die Nase hielt und von zwei jungen, wohlgekleideten, schwergebauten Begleitern in die falsche Richtung geleitet wurde, nämlich weg vom Theater. Nicht die einzige Ungewöhnlichkeit: Die Gesichter des Premierenpublikums spiegelten nicht die Freude über einen gelungenen Theaterabend, sondern hatten etwas schockiertes und gleichzeitig erregt starrendes. Ich schaute also leicht verwirrt durch die Gegend und sah ein zweites Mal den Mann, der seine Nase hielt - er ging jetzt ungefähr einen halben Meter vor mir über den roten Teppich zum Auto - und da sah ich: Das ist Richard von Weizsäcker. Der Bundespräsident. Ein echter Präsident, wie ich finde. Adelig, stolz, vernünftig, mit natürlicher Autorität ausgestattet. Ein Mensch, der im Krieg noch seinen Goethe las!
'Komisch', dachte ich, rieb den Zeigefinger drei Mal unterhalb der Nase entlang, ohne auf eine Idee zu kommen, warum dieses stattliche Staatsoberhaupt, Nase haltend und überstürzt eine sicherlich schöne Premierenfeier verlässt. Ob bereits Polizei vor Ort war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls fasste ich den Entschluss, meinen Weg fortzusetzen. Von Weizsäcker war verschwunden, und ich war ja nur aufgrund des Zufalls an diesen Ort gekommen, hatte dort also nichts mehr zu suchen.
Vom Thalia führte der Weg weiter die Mönckebergstraße überquerend zu einem Gebäude, indem Radio Hamburg sein sog. 'Gläsernes Studio' betreibt. Man kann von außen den Moderatoren bei der Arbeit zuschauen und -hören. Nicht meine Tasse Tee, aber als ich in den Lauschkreis des Lautsprechers geriet, hörte ich einige Wortfetzen: 'Anschlag.... Weizsäcker... Hamburg...'. Das war's aber auch schon. Ein Konzert voller Unruhe und eine Nacht nervösen Schlafes später erfuhr ich die ganze Wahrheit: Weizsäcker hatte vor dem Thalia-Theater einen auf die Nase bekommen. Und zwar von Günter Roersch, dessen Biografie auch auf ein bewegtes Leben schließen lässt: Erst hamburger Rotlichmilieu, dann deutschen Meister im Superschwergewicht der Gewichtheber (1975) und heute praktizierender Rechtsradikaler.
Ein Glück, dass ich nicht nach einem Autogramm gefragt habe. Und auch nicht über die Wirkung von Goethe in Extremsituationen diskutieren wollte. (nebenbei: weiss jemand, weshalb der roersch so sauer war auf den weizsäcker?)
Zur Theorie des Spazierengehens sei noch angemerkt, dass dies ein Spaziergang der erheblich beschleunigten Ereignisse war und deswegen bestimmt nicht sehr gesund. Und dass der berühmte Nasenschlag bereits nach zehn Minuten im Radio übertragen wurde, ist doch eine hübsche Illustration der etwas ausgeuferten Einleitung?!